Efrîn-Tagebuch: Rohenda!

Es gibt Menschen, die dir mit ihrer ganzen Haltung gleich beim ersten Kennenlernen sagen: ‚Hier bin ich, nimm mich wahr, dreh deinen Kopf zu mir und schau mich an!‘

Ich werde es nie vergessen, es war am 15. Tag des Widerstands von Efrîn. Ich saß mit einer Gruppe Freund*innen zusammen und alle arbeiteten konzentriert. Manche waren vollkommen vertieft in ihre Arbeit, andere befanden sich panisch im Wettlauf mit Zeit. Alle waren hungrig, aber niemand hatte Zeit, sich um etwas zu essen zu kümmern. Plötzlich kam eine strahlend lächelnde Freundin in YPJ-Kleidung herein. Wer sie kannte, erhob sich mit den Worten „Oh, Rohenda ist da!“. Sie umarmte alle herzlich und setzte sich. Sofort fiel ihre quirlige Lebendigkeit auf. In solchen Momenten verliert die Arbeit, an der du gerade sitzt, ihre Wichtigkeit. Automatisch richtest du deinen Blick auf diese Person, die sofort zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wird.

Ein Lachen, das wie blaue Schmetterlinge in den Himmel fliegt

Rohenda kam von der Front und hatte viel zu berichten. Sie schaltete ihre Kamera ein und zeigte den anderen die Aufnahmen, die sie gemacht hatte. Die Freund*innen reagierten mit erstaunter Bewunderung. „Du lässt dich beim Filmen noch umbringen. Warum bist du so nah herangegangen, warum passt du nicht auf dich auf?“ fragten sie und schlugen ihr aufs Knie. Rohenda lachte lauthals und ließ ihr Lachen wie blaue Schmetterlinge in den Himmel aufsteigen.

Da es mit der Arbeitsatmosphäre vorbei war, ging ich nach draußen, um etwas zu essen aufzutreiben. Zehn Minuten später war ich mit Einkaufstüten in den Händen zurück. Es herrschte Stille. Alle beugten sich wieder konzentriert über ihre Arbeit. Etwas fehlte, das Lachen war verschwunden. Ich sah mich um und stellte fest, dass Rohenda gegangen war. Ihr Gelächter, ihre überquellende Begeisterung und ihre Kamera hatte sie mitgenommen. Sie war wieder zur Front aufgebrochen.

Es verging ein Monat. In den Nachrichten sah ich ein bekanntes Gesicht und in meiner Erinnerung tauchte ein Gelächter auf. Ich erinnerte mich an den Flug der blauen Schmetterlinge und biss mir auf die Lippen. „Rohenda!“ war alles, was ich sagen konnte. In solchen Momenten spürst du, wie sich eine kleine Flamme in dir ausbreitet und dich von innen verbrennt. Dann brechen die Fragen aus dir heraus: Wie ist es passiert, wo war sie zuletzt, was hat sie getan? Eine Frage reiht sich an die nächste. Letztlich erfahre ich, wie sie gefallen ist, und die Flamme in mir lodert auf. Meine Augen brennen. Die Worte „Rohenda ist zusammen mit ihrem Vater gefallen“ zerreißen mir das Herz. Und dieses Herz kann es nicht lassen und muss unbedingt die ganze Wahrheit erfahren.

„Niemand soll sagen, dass ich mein Dorf verlassen habe“

Rohenda kommt aus dem Dorf Kefersefrê im Bezirk Cindirês. Als sie erfährt, dass ihr Vater das Dorf nicht verlassen und unbedingt Widerstand leisten will, nimmt sie ihre Kamera und läuft los. Eine weitere Freundin kommt mit ihr. Rohendas Vater hat in seinem Haus Stellung bezogen. In den Tiefen seines Herzens hat er beschlossen, Widerstand zu leisten. Als Rohenda ankommt, versuchen zwei Kämpfer gerade ihren Vater dazu zu bewegen, das Dorf zu verlassen. Es ist vergebens. „Selbst wenn es den Tod bedeutet, lasse ich nicht von mir sagen, dass ich das Dorf zurückgelassen habe und gegangen bin“, sagt er. Rohenda und ihre Freund*innen wissen, wie es enden wird, aber sie lassen ihren Vater nicht allein. Die einzige Alternative ist, bis zur letzten Kugel zu kämpfen.

Einiges wird immer ein Geheimnis bleiben

Die blutdürstige Vampirhorde des türkischen Militärs und der Dschihadisten umstellen das Haus, in dem sich Rohenda, ihr Vater und drei weitere Freund*innen befinden. Das Gefecht dauert Stunden. Jede Minute geht wie ein stiller Aufschrei unbekannter Legenden in die Geschichte des Widerstands ein. Was sie zuletzt gesagt und getan haben, wie sie sich das letzte Mal angesehen haben, wissen wir nicht. Das wissen nur sie selbst. Die letzten Gefühle, die Rohenda hatte, bevor sie zu ihrer zuvor in Aleppo gefallenen großen Schwester Deniz ging, hat sie mitgenommen. Wir werden es nie erfahren. Einige Dinge bleiben immer ein Geheimnis.

Die Leichen von Rohenda und ihren Freund*innen wurden vor das zerschossene Haus gelegt. Eine türkisch sprechende Kreatur murmelt etwas und schreit auf Arabisch „Allahu eqbar“. In seinem Gesicht ist Angst. An der Stelle, an der Rohendas weißhaariger Vater in seinem Blut liegt, krächzt die grauenhafte Gestalt etwas von Rache. Würde man ihn fragen, an wem und weswegen er Rache üben will, könnte er keine Antwort geben. Er ist ein auf das Töten von Menschen programmierter Mörder. Die Geschichte wird ihm ins Gesicht spucken. Er weiß nicht einmal, wen er da auf dem Gewissen hat und wie viele blaue Schmetterlinge er damit getötet hat…

YENI ÖZGÜR POLITIKA