Efrîn-Forum: YPJ-Sprecherin stellt Bilanz der Besatzung vor

Am zweiten Tag des in Rojava stattfindenden internationalen Efrîn-Forums hat die YPJ-Sprecherin Nesrin Abdullah die vorläufige Bilanz der begangenen Verbrechen im besetzten Kanton vorgestellt.

„Die internationalen Akteure wollen entsprechend ihrer ökonomischen und politischen Interessen die Landkarte des Mittleren Ostens neu zeichnen. Die Widersprüche dieser Mächte verdichten sich aktuell im syrischen Bürgerkrieg. Aus diesem Grund ist Syrien zum Schlachtfeld des dritten Weltkriegs geworden“, mit diesen Worten leitete die YPJ-Sprecherin Nesrin Abdullah ihren Beitrag am zweiten Tag des internationalen Forums zum demografischen Wandel und der ethnischen Säuberung in Efrîn ein.

Bevor sie zur Situation in Efrîn nach der Besetzung durch die Türkei und ihre islamistischen Partner zu sprechen kam, ergänzte Abdullah noch: „Der Krieg in Syrien betrifft - angefangen bei Frauen und Kindern - alle gesellschaftlichen Teile des Landes. Millionen von Menschen haben ihre Heimat verlassen. Die Zahl der Todesopfer, der Verletzten und der Verschwundenen bemisst sich in Abertausenden. Die Infrastruktur des Landes ist völlig zerstört. Laut internationalen Organisationen beläuft sich allein der im Bürgerkrieg entstandene materielle Schaden auf rund 400 Milliarden US-Dollar.“

Die Türkei will ihre osmanischen Träume realisieren

Auf die Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg ging Abdullah mit folgenden Worten ein: „Die Türkei war in diesem Krieg eines der ersten Länder, das politisch intervenierte, um die demokratische Bewegung der Bevölkerung im Sinne der eigenen Interessen zu manipulieren. Von Zeit zu Zeit hat sich die Türkei zur Verteidigerin der Bevölkerung Syriens aufgespielt. Von Zeit zu Zeit hat sie versucht, einen Keil zwischen die Akteure aus der Bevölkerung Syriens zu treiben. Diejenigen Teile der Opposition, die sie auf ihre Seite bringen konnte, hat sie gnadenlos für die eigenen Interessen missbraucht.“

Zu der Besatzung Efrîns und anderer Orte Nordsyriens erklärte die YPJ-Sprecherin: „Die Türkei ist mit haltlosen Begründungen und gegen das Völkerrecht verstoßend in Efrîn einmarschiert. Sie verfolgt in der Region eine Politik, mit der sie ihre osmanischen Träume zu realisieren versucht. Dasselbe gilt für die Besatzung von Azaz, Cerablus und Bab. Selbst auf Aleppo hatte die Türkei ein Auge geworfen. Als ob das nicht ausreichen würde, bedroht die Türkei nun auch die Gebiete östlich des Euphrats.“

In Efrîn sind binnen sieben Monaten 335 Zivilisten ermordet worden

Die von der Türkei verübten Kriegsverbrechen in Efrîn listet die YPJ-Sprecherin wie folgt auf: „Meldungen von Tötungen, Folter, Entführungen und Vertreibungen erreichen uns weiterhin täglich. Hinzu kommt, dass die Türkei systematisch die Bevölkerungsverhältnisse in der Region zu verändern versucht. Laut den Angaben von Menschenrechtsorganisationen, welche die Verbrechen in Efrîn dokumentieren, sind zwischen dem 18. März und dem 29. September 2018 335 Menschen durch die Besatzer ermordet und 729 weitere verletzt worden. Im selben Zeitraum wurden 937 Menschen entführt und 72 verloren wegen Minen und Sprengfallen ihr Leben. Diese Zahlen steigen weiterhin an.“

Dschihadistische Gruppierungen im Einsatz für die Türkei

Laut Nesrin Abdullah erfolgte der erste Angriff auf Efrîn durch dschihadistische Gruppierungen auf Anleitung der Türkei bereits im Jahr 2013. Ziel dieses ersten Angriffes war das Dorf Qestel Cindo, das von einer aus Azaz heraus operierenden Gruppe mit dem Namen Liwa Asifet al-Shamal verübt wurde. Im selben Jahr habe der IS gemeinsam mit weiteren islamistischen Gruppierungen über einen Monat hinweg das Gebiet Cindirês angegriffen. „Ab Juni 2013 umzingelten insgesamt 14 bewaffnete Organisationen, darunter der IS, die Al-Nusra Front und Ahrar al-Sham Efrîn vollständig. Die Gruppen hielten an der Grenze zur Türkei Wache und das türkische Militär beschoss Zivilisten, die flüchten wollten. Insgesamt hat die türkische Armee mehr als 200 Zivilisten getötet, die über die Grenze in die Türkei flüchten wollten“, erklärte Abdullah.

Mehr als 400.000 Menschen hatten in Efrîn Zuflucht gefunden

„Efrîn war bis zur Besatzung durch die Türkei ein sicherer Hafen für viele Binnenflüchtlinge aus Syrien“, so Abdullah. Trotz Blockade habe der Kanton nach seinen Möglichkeiten die Geflüchteten stets unterstützt. Die Zahl der syrischen Binnenflüchtlinge, die in den Häusern der Bevölkerung von Efrîn und im Camp Rubar Zuflucht gefunden hatten, betrug laut der YPJ-Sprecherin 400.000.

Doch nun sei Efrîn unter der Besatzung zu einem Ort geworden, aus dem die Menschen selbst notgedrungen flüchten müssten. „Zivilisten werden entführt, massakriert und selbst ihre Leichname werden geschändet. So soll Furcht unter der verbliebenen Bevölkerung der Stadt verbreitet werden“, so Abdullah. Zudem seien besonders Frauen und Mädchen durch die islamistischen Partner der Türkei in großer Gefahr. Die Sprecherin der Frauenverteidigungseinheiten erklärt, dass viele von ihnen entführt und vergewaltigt werden.

Die Politik des kulturellen Genozids wird auf Efrîn ausgeweitet

Abdullah machte zudem darauf aufmerksam, dass der türkische Staat seine Assimilationspolitik gegenüber den Kurden auch auf Efrîn ausgeweitet hat: „Türkischsprachige Lehrbücher sind nun in den Schulen verpflichtend. Der muttersprachliche Unterricht hingegen wird verboten. In offiziellen Einrichtungen sind türkische Fahnen zu sehen. Frauen werden zur Verschleierung gezwungen. Und die heiligen Stätten der Eziden werden zerstört, die ezidische Bevölkerung unter Morddrohungen zwangsislamisiert.“

„All diese Kriegsverbrechen geschehen vor den Augen der Weltöffentlichkeit“, so Abdullah, die gleich hinterher ergänzte: „Das bedeutet natürlich nicht, dass andere internationale Akteure im syrischen Bürgerkrieg keine Kriegsverbrechen begehen würden oder gar eine Lösung des syrischen Bürgerkriegs anstreben.“

Ihre Rede schloss die YPJ-Sprecherin mit folgenden Worten ab: „Wir werden niemals die Unterstützung der Frauen auf der gesamten Welt für uns vergessen. Sie sind unsere ideellen Unterstützerinnen. Und ihnen möchten wir das Versprechen geben, dass wir unseren Kampf für die Freiheit von Frauen und für Gerechtigkeit mit aller Kraft fortsetzen werden.“