Efrîn – eine Geisterstadt

Unter der türkisch-dschihadistischen Besatzung ist in Efrîn kein Leben mehr möglich. Die Stadt ist zu einer Geisterstadt geworden.

Seit dem 18. März ist der nordsyrische Kanton Efrîn vom türkischen Militär und dschihadistischen Milizen besetzt. Seit Monaten reißen die Berichte Betroffener über Folter, Plünderungen, Raub, Entführungen und gewaltsame Unterdrückung nicht ab. Viele Menschen, die Efrîn bei der Evakuierung im März nicht verlassen wollten, mussten später aufgrund des Vorgehens der Besatzungstruppen trotzdem fliehen. Einer von ihnen ist R.C. Er hat die völlige Entrechtung der Menschen unter der Besatzung monatelang miterlebt. Dann musste auch er Efrîn verlassen und ging wie Hunderttausende vor ihm in den nahe gelegenen Kanton Şehba. ANF gegenüber hat er von seinen Erlebnissen berichtet.

Als die türkische Militärinvasion in Efrîn begann, lebte R.C. mit seiner Familie im Dorf. Aufgrund der fortgesetzten Bombardierung ging die Familie in die Stadt. „Wir konnten uns damals nicht vorstellen, dass auch das Stadtzentrum bombardiert wird. Als wir dort ankamen, wurde es noch schlimmer als im Dorf. Wir mussten tagelang in einem Keller ausharren. Schließlich kehrten wir ins Dorf zurück“, erzählt er.

Kinder zur Folter gezwungen

Aber auch im Dorf standen die Menschen unter dem ständigen Druck der Besatzungstruppen. Menschen wurden verschleppt, für ihre Freilassung wurde Lösegeld gefordert. Ein Ladenbesitzer aus dem Dorf wurde als vermeintliches „Organisationsmitglied“ gefangen genommen. „Er wurde tagelang gefoltert. Später wurde er gegen Lösegeldzahlung freigelassen. Als er zurückkam, war er eine lebende Leiche. Seine Rippen waren gebrochen. Er erzählte uns, dass er mit verbundenen Augen gefoltert wurde. Die Folter wurde von Kindern ausgeführt. Die Gefangenen mussten dabei zusehen, wie die Kinder andere Gefangenen folterten.“

Eines der Gefängnisse war in Raco. Wer dorthin gebracht wurde, kam als Leiche wieder hinaus, sagt R.C.: „Es gab auch ein Gefängnis in Basûtê. Sie nannten es Festungsgefängnis.“ Im Osmanischen Reich lautete der Name eines Kerkers auf einer Insel vor Latakia Festungsgefängnis. Es war dafür bekannt, dass es niemand lebend verlassen konnte. R.C. berichtet von dem heutigen „Festungsgefängnis“ in Efrîn: „Die Gefangenen wurden am Palästinenserhaken aufgehängt. Ein Mann verlor dabei das Bewusstsein. Angeblich wurde er zur medizinischen Behandlung in die Türkei gebracht, aber man hat nie wieder etwas von ihm gehört.“

Entführungen und Lösegelderpressungen aus Deutschland

„Meinem Cousin wurde gesagt, er müsse entweder sein Auto hergeben oder Geld zahlen. Er gab eine Million syrische Lira. Der Mann meiner Tante ist seit 15 Jahren in der Türkei. Die Besatzer sagten, er sei bestimmt ein Organisationsmitglied und deshalb geflüchtet. Sein Taxi wurde beschlagnahmt. Sie haben für alles einen Vorwand parat. Zum Beispiel kamen sie ins Dorf und sagten, sie müssten alle Telefone kontrollieren. Natürlich hat niemand sein Telefon zurückbekommen.

Sie gingen in die Häuser und nahmen alles mit, was beweglich war. Waren die Bewohner nicht zu Hause, hieß es, sie seien weggelaufen, weil sie zur Organisation gehören, und dann wurde alles beschlagnahmt. Einmal nahmen sie einen im Dorf fest. Der Mann sagte: ‚Ich habe nichts getan, ich habe mit der Organisation nichts zu tun.‘ Die Besatzer antworteten: ‚Du bist Kurde, das reicht uns‘.“

Eine weitere gängige Methode funktioniert laut R.C. über Mobiltelefone: „Sie nehmen irgendwen fest und beschlagnahmen sein Telefon. Dann speichern sie ein Foto von Abdullah Öcalan auf dem Telefon und behaupten, der Besitzer sei von der PKK. Mit dieser Begründung nehmen sie die Leute mit und foltern sie. Wer Verwandte in Deutschland hat, wird verschleppt und von den Verwandten wird dann Lösegeld gefordert.“

„Dschihadisten töten sich im Streit um die Beute gegenseitig“

„Als wir in die Stadt gingen, hatten wir alle unsere Sachen mitgenommen und in einem Keller verstaut. Später ging ich wieder dorthin, um die Sachen zu holen, aber es war alles weg. Es wird alles geplündert. Vor allem bei wohlhabenden Menschen erfinden sie irgendeine Straftat und beschlagnahmen ihr Hab und Gut. Im Dorf haben sie einen Mann mitgenommen und geschmolzenes Gummi auf ihn getröpfelt. Eine Frau, die früher in der Kommune gearbeitet hat, wurde verschleppt und 45 Tage festgehalten. Es gibt keine Form der Folter, die sie ihr nicht angetan hätten. Sie ist immer noch krank.“

Seit Monaten sind auch die Dorfbewohner İsmet Mahmut Henan und Bekir Neşad verschollen, erzählt R.C.: „Ihre Kinder sind verzweifelt. Die Zivilbevölkerung wird auf jede erdenkliche Weise gefoltert. Ein Mann ist vor 15 Jahren nach Deutschland gegangen. Auch sein gesamter Besitz in Efrîn ist mit der Begründung beschlagnahmt worden, dass er Organisationsmitglied ist. Tagsüber laufen die Besatzer herum und spähen die Häuser aus. Abends gehen sie dann hinein und plündern alles. Es kommt häufiger vor, dass die Dschihadisten sich im Streit um die Beute gegenseitig töten.“

ENKS-Mitglieder unterstützen die Besatzer

Einige Menschen aus Efrîn, die dem Kurdischen Nationalrat (ENKS) nahestehen, arbeiten für die Besatzer, erzählt R.C. weiter: „Die ENKS-Leute haben viel für die Besatzer getan, aber ihnen ergeht es oft nicht viel besser. Schließlich sind es auch Kurden und so werden sie von den Besatzern betrachtet. Trotzdem gibt es immer noch Leute vom ENKS, die die Besatzer in den Dörfern herumführen. Sie nehmen die Wäsche von den Dschihadisten und lassen sie von ihren Frauen und Töchtern waschen. Dabei behaupten sie, es handele sich um unsere Soldaten, denen wir dienen müssten. Sie werden auch von den Besatzern misshandelt, aber sie dienen ihnen trotzdem.“

Kinder werden in türkische Schulen gezwungen

Für Frauen ist die Situation in Efrîn besonders schlimm, erzählt R.C.: „Sie müssen zu Hause bleiben und können kaum noch selbst einkaufen gehen. In Efrîn hat der türkische Staat eine Schule eröffnet und mit türkischen Fahnen geschmückt. Die Kinder werden gezwungen, in diese Schule zu gehen. Sie wollen es nicht, aber sie haben Angst. Die Familien werden bedroht, damit sie ihre Kinder zur Schule schicken.

Manchmal werden die Familien auch gezwungen, an irgendwelchen Veranstaltungen teilzunehmen. Dann werden den Menschen Fahnen in die Hand gedrückt und das erscheint dann in den Medien. Erdoğans Behauptung, er habe für Ruhe und Sicherheit in Efrîn gesorgt, ist eine komplette Lüge. Efrîn ist zu einer Geisterstadt geworden. Die Menschen trauen sich kaum, das Haus zu verlassen. Der türkische Staat hat Ausweise erstellen lassen, aber damit sollen nur die persönlichen Daten der Bevölkerung gesammelt werden.“