Aufgrund der türkischen Besatzung von Efrîn im März 2018 mussten hunderttausende Menschen in den benachbarten Kanton Şehba fliehen. Bei den Vertriebenen handelte es sich nicht nur um Menschen, die aus Efrîn stammen. Aus Aleppo, Azaz, al-Bab und vielen weiteren syrischen Regionen hatten Menschen zuvor Zuflucht vor dem Krieg in Efrîn gesucht. Durch die türkische Invasion mussten sie ein zweites Mal flüchten. Einer der mehrfach Vertriebenen ist Nuri Adnan. Er ist Turkmene und stammt aus einem Dorf in Şehba.
Um publik zu machen, was den Menschen aus Şehba und Efrîn widerfahren ist, hat Nuri Adnan mit eigenen beschränkten Mitteln die Agentur Rûmaf gegründet. Eines der Projekte der Agentur richtet sich an Kinder, die aus Efrîn fliehen mussten. Zusammen mit professionellen Künstlern malten Tausende Kinder in den selbstverwalteten Lagern Berxwedan und Serdem in Şehba riesige Bilder, in denen sie ihre Ängste und Träume zum Ausdruck brachten. 2018 wurde ein 250 Meter langes Bild auf eine Zeltplane gemalt, 2019 wurde die Bildfläche auf 500 Meter verdoppelt.
Gegenüber ANF hat Nuri Adnan sich zu dem Projekt und seinen Erfahrungen im syrischen Bürgerkrieg geäußert.
„Die Dschihadisten kamen aus der Türkei nach Syrien“
Was 2011 in Syrien stattgefunden hat, sei allgemein bekannt, erzählt Nuri Adnan: „Zuerst wollten die Menschen einfach nur frei sein. Dann traten die Dschihadisten auf den Plan und es wurde chaotisch. 2012 kamen die ersten Dschihadisten in die Dörfer in Şehba. Milizionäre der FSA und al-Nusra kamen aus der Türkei nach Şehba. Zunächst stellten sich diese Milizen mit anderen Namen vor. Doch dann war auf einmal der IS da. Wir begriffen gar nicht, wie es dazu gekommen war. Unter den Dschihadisten war ein Mann namens Abu Dijene. Er stammte aus Maraş und sprach sehr gut Türkisch, aber er nutzte einen arabischen Namen und gehörte zu den Anführern der Milizen.
Vorher hatten wir ein gutes Leben. Als die Dschihadisten kamen, wurde alles schlecht. Wir hielten es nicht mehr aus und verließen die Region. Das taten nicht nur Turkmenen, sondern auch Kurden, Araber und andere. Wir gingen nach Aleppo, aber dort war die Situation nicht anders. Deshalb gingen wir nach Efrîn. In Efrîn haben wir gut gelebt. Es gab ein demokratisches System, in dem jeder sich ausdrücken konnte. Es war nicht wichtig, welcher Religion oder Ethnie man angehörte.“
Überall waren Sprengfallen und Minen
Nuri Adnan erinnert sich, dass zu Beginn der türkischen Invasion überall davon ausgegangen wurde, dass Efrîn innerhalb von 48 Stunden erobert werde: „Stattdessen wurde 58 Tage lang Widerstand geleistet. Erst dann fand die Evakuierung der Bevölkerung nach Şehba statt. Auf der Flucht wurden die Menschen von Scharfschützen beschossen, viele verloren auf dem Weg ihr Leben. In Şehba herrschten schlimme Bedingungen aufgrund des vorher stattgefundenen Krieges. Alle Dörfer und Kleinstädte waren zerstört, in allen Häusern lagen Sprengfallen der Dschihadisten. Es kam ständig zu Explosionen.
Von außen kam so gut wie keine Unterstützung. In Efrîn hatten wir ein demokratisches Leben, wie wir es vorher nie erlebt hatten. Vor 2011 wussten wir gar nicht, dass so etwas möglich ist. Das lernten wir erst in Efrîn. Die Menschen, die jetzt in Şehba leben, sind eng zusammengerückt. Die Menschen aus Efrîn sind erst seit anderthalb Jahren hier, aber es gab bereits vorher seit Jahrhunderten enge Beziehungen zwischen den beiden Kantonen. Ungefähr fünfzig bis sechzig Dörfer in Şehba sind kurdische Dörfer.
Ich wollte der Welt zeigen, was der türkische Staat, die FSA und die anderen Dschihadisten diesen Menschen angetan haben. Dass Tausende Dschihadisten von Azaz nach Efrîn transferiert wurden, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Wir haben die wichtigsten Männer des IS in diesen Dörfern erlebt. Die Agentur Rûmaf habe ich gegründet, um all das öffentlich zu machen.“
Die in Efrîn zurückgelassene Katze
Nuri Adnan besuchte die selbstverwalteten Camps, die nach der Besatzung von Efrîn in Şehba errichtet wurden: „Dabei haben wir vor allem mitgekriegt, wie die Kinder gelitten haben. Sie haben ihre Schulen und ihre Häuser vermisst. Manche Kinder weinten ununterbrochen. Zwei Erlebnisse haben mir besonders wehgetan. Wir besuchten eine Familie aus Efrîn, die in Tel Rifat untergekommen war. Wir wollten ein Interview mit der Mutter führen. Sie hatte eine fünfjährige Tochter, die ständig weinte. Das Mädchen erzählte mir, dass sie in Efrîn eine Schildkröte hatte, die sie bei der Flucht nicht mitnehmen konnte. Ein anderes Kind weinte um seine zurückgebliebene Katze. Dieser Schmerz ist schwer auszuhalten. Die ganze Welt begnügt sich jedoch damit dabei zuzusehen, was der türkische Staat in Efrîn auch heute noch anrichtet.
Blutender Olivenbaum
Die Besuche in den Camps führten dazu, dass wir darüber nachdachten, was wir selbst für diese Menschen tun können. Wir wollten etwas tun, was wir filmen können, und es sollte etwas für die Kinder sein. Kinder malen gerne, so sind wir auf die Idee mit dem Bild gekommen. Künstler aus Efrîn haben uns sehr bei der Umsetzung geholfen. Henif Hemo ist einer der professionellsten Maler aus Efrîn. Heysem hat die Kamera übernommen. 2018 haben wir eine Zeltplane von 160 Zentimetern Breite und 250 Metern Länge angeschafft und sind damit durch die Camps und Dörfer gezogen. Die Kinder malten alle möglichen Sachen auf diese Plane. Beispielsweise malte ein Kind einen Olivenbaum, aber die Oliven malte es mit roter Farbe. Als wir nach dem Grund fragten, sagte es, dass der Baum blutet.
Die Gefühlswelt von Kindern
Ein anderes Kind, sieben Jahre, malte eine brennenden Olivenbaum. Es erklärte uns, dass die Türken den Baum angezündet haben. Es waren sehr schwer auszuhaltende Momente. Dann kam der Winter und wir hatten auch nicht mehr genügend Material, deshalb mussten wir das Projekt unterbrechen. Als wir in diesem Sommer erneut durch die Camps zogen, fragten uns die Kinder, ob wir das Projekt nicht wiederholen könnten. Daraufhin planten wir ein noch größeres Ausmaß. In Serdem malten wir am 2. September mit 2000 Kindern aus verschiedenen Camps im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren ein 500 Meter langes Bild. Auch dieses Mal sind dabei sehr schöne Sachen entstanden. Die Kinder haben ihre eigene Gefühlswelt in dem Bild zum Ausdruck gebracht. Meiner Meinung nach handelt es sich um das größte Projekt der Welt. Von der Hand und mit den Augen von Kindern ist in einem Flüchtlingscamp etwas Großartiges entstanden.
Und das war auch unsere Absicht. Der Welt sollte aus der Perspektive von Kindern etwas vermittelt werden. Vielleicht trägt das Projekt dazu bei, dass ein klein wenig verstanden wird, was in Efrîn und Şehba vor sich geht. Beispielsweise benutzte ein Kind nur die Farbe Schwarz. Ich fragte es nach dem Grund und sagte, dass es doch auch andere Farben gibt. Es antwortete, dass nichts auf der Welt mehr weiß ist. Mein einziger Wunsch ist, dass Menschen, die noch etwas Liebe empfinden können, hierher kommen und die Menschen hier sehen. Ansonsten wollen wir nichts. Sie sollen nur die Realität wiedergeben.“
Das nächste Projekt von Adnan Nuri ist ein Dokumentarfilm über die Vertriebenen aus Efrîn. „In jedem einzelnen Zelt in den Camps und in den Häusern in den Dörfern finden sich unglaubliche Geschichten. Man muss sich bloß darauf einlassen können.“