„Das syrische Regime ist immer noch das alte“

Der Ko-Vorsitzende der PYD, Salih Muslim, bewertet die internationalen und regionalen Entwicklungen in und um Syrien. Der Politiker zeigt sich besorgt ob der Annäherung zwischen der Türkei und dem syrischen Regime.

Das syrische Regime hat mit seiner Rückkehr in die Arabische Liga seine Isolation einen Schritt weiter durchbrochen. Das Regime scheint seine Machtbasis konsolidiert zu haben. Gleichzeitig hält es die selbstverwalteten Regionen unter einem scharfen Embargo. Im Gespräch mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika bewertet Salih Muslim, Ko-Vorsitzender der PYD (Partei der Demokratischen Einheit), die aktuellen Entwicklungen in und um Syrien.

Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) hat eine politische Initiative für Gespräche gestartet. Wie sehen Sie die Zukunft der AANES?

Das, was in Nord- und Ostsyrien umgesetzt wird, stellt eine Lösungsformel für die komplexen Probleme des Nahen Ostens dar. Seit dem Ersten Weltkrieg bis heute erstickt die Region in Konflikten, und das Konzept des Nationalstaats war nicht in der Lage, für Stabilität zu sorgen. Nord- und Ostsyrien ist ein Modell für das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Völker. Wir hoffen, dieses Modell erfolgreich umzusetzen, zu vertiefen und zu konsolidieren und es zu einem Beispiel nicht nur für uns selbst, sondern auch für Syrien und den gesamten Nahen Osten zu machen.

Wie steht es um Ihre Beziehungen zu den anderen Teilen Kurdistans?

Unsere Beziehungen zu anderen Parteien in Kurdistan müssen auf der Anerkennung unseres gemeinsamen Erbes, unserer Sprache und Kultur beruhen. Es ist jedoch entmutigend, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts alle Teile Kurdistans unter Fremdherrschaft stehen. Die Baathisten in Syrien, die Kemalisten in der Türkei, Saddam Hussein im Irak und der Schah von Persien beherrschten die verschiedenen Teile Kurdistans. Jede dieser Mächte versuchte, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, und spielte die kurdischen Gruppen immer wieder gegeneinander aus. Entsprechend ihrer Agenden haben sie die Kurdinnen und Kurden ausgenutzt, ausgebeutet und gespalten. Deshalb ist es von immenser Bedeutung, dass wir zusammenkommen und uns verständigen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Außenstehende uns ausnutzen und uns in den Geschwistermord treiben. Wir versuchen nicht, anderen Parteien die Schuld zuzuweisen. Im Gegenteil, wir versuchen, Konflikte zu vermeiden und die Bande der Geschwisterlichkeit und Freundschaft zu wahren. Es ist sehr wichtig, dass wir zusammenarbeiten und uns gegenseitig unterstützen, nicht nur in bestimmten Regionen, sondern in ganz Kurdistan.

Es gibt eine historische Beziehung zwischen der PKK und Damaskus. Diese Beziehung ist abgerissen. Jetzt gibt es unter russischer Vermittlung Gespräche zwischen Damaskus und Ankara. Besorgt Sie das nicht?

Die Zusammenarbeit zwischen der PKK und dem syrischen Regime lässt sich auf bestimmte historische Entwicklungen und die Auswirkungen besonderer Umstände zu ihrem Zeitpunkt zurückführen. Als die PKK 1978 auftauchte, befand sich die Türkei in einer Phase der Instabilität und man fürchtete einen möglichen Militärputsch. In ähnlicher Weise (wie die PKK) hatte die türkische Linke in den 1970er Jahren Verbindungen zu palästinensischen Organisationen aufgebaut. Als 1979/1980 in der Türkei ein Militärputsch stattfand, versuchten die Kurden, Verbindungen zu den im Libanon tätigen palästinensischen Organisationen herzustellen. Einige PKK-Mitglieder erhielten sogar palästinensische Ausweise, um den Ortswechsel zu erleichtern. Während der israelischen Invasion im Libanon im Jahr 1982 leisteten die Kurden und die PKK an der Seite der Palästinenser aktiven Widerstand. Als die Palästinenser in Beirut Zuflucht suchten und die Stadt vier Monate lang belagert wurde, waren es vor allem die Kurden und die PKK, die zusammen mit den verschiedenen Widerstandsorganisationen kämpften und das Land verteidigten. Die PKK hatte ein Lager in der Bekaa-Ebene und zeigte sich sehr entschlossen bei der Verteidigung der Region.

Hat Abdullah Öcalan gegen Israel gekämpft?

Einige Genossen aus der PKK kämpften gegen die Israelis, und tragischerweise wurden dreizehn von ihnen in der Kreuzfahrer-Festung Beaufort (Belfort) getötet. Die Israelis wussten, dass die Kurden an der Seite der Palästinenser kämpften. Nach ihrer Rückkehr in das Bekaa-Lager bestand die syrische Armee darauf, dass die Kurden, ebenso wie die Palästinenser, das Lager verlassen. Aber die Kurden weigerten sich mit der Begründung, dass ihre Genossen im Libanon gefallen seien. Sie erklärten, man könne sie nicht zum Abzug zwingen. Schließlich bot Syrien den Kurden einen bestimmten Ort an, an dem sie ihr Lager aufschlagen konnten. Die Beziehungen zwischen dem syrischen Staat und der PKK, einschließlich der Kämpfer und Kämpferinnen, wurden nach der (syrischen) Invasion (im Libanon/1982) in den Jahren 1983/1984 aufgenommen. Syrien ging auf die Kurden zu, um einen Vorteil gegen die Syrien feindlich gesinnte Türkei zu gewinnen. Es ist wichtig zu betonen, dass Syrien der PKK weder Geld noch Waffen zur Verfügung stellte. Der Einfluss Syriens mag andere davon abgehalten haben, die Kurden ins Visier zu nehmen, aber er hat der Türkei ermöglicht, die Kurden zu bekämpfen. Syrien hat auch dazu beigetragen, den Transfer von Personen und Gruppen über die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien zu erleichtern, unter anderem durch die Ausstellung von Papieren. Die Beziehungen zwischen der PKK und Syrien zeichneten sich durch eine politische Koordinierung aus, die den Interessen beider Seiten diente. Syrien hat der PKK keine finanzielle Unterstützung gegeben oder Waffen geliefert, sondern eine strategische Ausrichtung auf der Grundlage gemeinsamer Ziele und Bedürfnisse verfolgt.

Sind Sie besorgt über eine türkisch-syrische Zusammenarbeit gegen Sie?

Ein Treffen zwischen Baschar al-Assad und Tayyip Erdoğan und die mögliche Annäherung zwischen dem syrischen und dem türkischen Regime wurde treffend als „Vernunftehe“ bezeichnet. Diese findet vor dem Hintergrund einer langjährigen Feindschaft zwischen den beiden Seiten statt, die auf historische Ereignisse, darunter die Annexion von Iskenderun und die französische Mandatszeit, zurückgeht. Syrien hat unzählige Opfer durch den türkischen Staat und den türkischen Faschismus zu beklagen. Das lässt sich nicht einfach wegwischen. Was die Öcalan-Frage betrifft, so zielte das Adana-Abkommen, das 1998 zwischen den Leitern des syrischen politischen Sicherheitsapparats und dem türkischen Geheimdienst unterzeichnet wurde, darauf ab, alles was mit der kurdische Frage zu tun hat, in Syrien zu beseitigen. Die Angst vor der Bedeutung der kurdischen Frage wuchs unter den Mächten. Das Vorgehen der Baathisten gegen die Kurden ist bekannt. Obwohl es zwischen der Türkei und Syrien erhebliche Unterschiede gibt, verbindet sie ein gemeinsamer Hass auf die Kurden. Eine Einigung zwischen der Türkei und Syrien ist zwar nach wie vor ungewiss, aber es ist bereits jetzt deutlich, dass die dafür erforderlichen Bedingungen und Machtbalancen derzeit nicht gegeben sind. Als Bürgerinnen und Bürger Syriens und als Kurden fordern wir Rechte für alle Menschen in Syrien und wollen einen demokratischen Raum schaffen. Wir haben keine verinnerlichte Feindschaft gegenüber dem syrischen Staat. Die kürzlich vorgestellte Deklaration betont die demokratischen Werte. Daher wird jede Annäherung zwischen dem syrischen Regime und der Türkei wahrscheinlich zum Nachteil des kurdischen Volkes sein. In einem solchen Fall bliebe uns nur der Widerstand, da wir keine anderen Mittel zur Verfügung haben, und da ist es nur verständlich, dass wir besorgt sind.

Was bedeutet die Zusammenarbeit von Ankara und Damaskus für die Zukunft der Selbstverwaltung?

Ich bin nicht direkt in militärische Angelegenheiten involviert, aber da ich mein Volk kenne, kann ich sagen, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in der Lage sind, sich zu verteidigen. Wir sollten jedoch vorsichtig sein, uns auf die unwahrscheinliche Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen Ankara und Damaskus zu fokussieren. Ich glaube, dass die Wahrscheinlichkeit einer solchen Zusammenarbeit weniger als ein Prozent beträgt.

Im Mai nahm Syrien an einem Gipfel der Arabischen Liga teil. Was denken Sie über diese Normalisierung der Beziehungen?

Wir begrüßen die syrisch-arabisch-kurdischen Beziehungen. Als Mitglieder des Nationalen Koordinierungsausschusses gehörten wir zu den ersten, die sich dafür einsetzten, dass die Syrienkrise in der Arabischen Liga diskutiert wird, um eine Einmischung von außen zu verhindern. Vielleicht waren wir die ersten, die sich dafür eingesetzt haben, und wir haben uns an die Arabische Liga gewandt. Wir sind nicht erschrocken über diese Annäherung. Es fällt uns jedoch schwer zu glauben, dass die arabische Welt trotz der Katastrophe, der Zerstörung, des Todes von Hunderttausenden und der Vertreibung von Millionen von Menschen, die Beziehungen zum syrischen Regime wieder aufnehmen wird, als wäre nichts geschehen. Wir finden das schwierig und halten es für ein Unrecht gegenüber den Menschen in Syrien. Wir hoffen, dass diese Aussöhnung oder Annäherung nicht den Menschen in Syrien zum Nachteil gereichen wird. Das Regime verhält sich immer noch so, wie wir es von früher kennen, und es handelt genauso. Es hat noch immer vor, den Status quo ante 2011 wiederherzustellen. Das ist unmöglich. Daher bin ich der Meinung, dass die arabischen Staaten den Standpunkt beziehen sollten, dass die Bedingungen für die Umsetzung einer politischen Lösung und der UN-Resolutionen eingehalten werden und dass Demokratie und zumindest Respekt für das syrische Volk und alle in Syrien lebenden Identitäten Praxis werden müssen. Ich bin davon überzeugt, dass die arabischen Länder dem syrischen Regime einige Bedingungen für die Wiederaufnahme der Beziehungen stellen werden.

Gibt es einen Dialog zwischen Ihnen und Damaskus?

Wir hatten vor einiger Zeit Gespräche, aber jetzt nicht mehr. Wir hoffen, dass die arabischen Staaten zu einer Wiederaufnahme beitragen werden, indem sie Assad auffordern, das Thema zu diskutieren und eine echte Lösung zu finden.

Wo sehen Sie die Zukunft der QSD?

Die QSD haben große Opfer gebracht, um Syrien und seine Souveränität zu verteidigen, vielleicht mehr als die syrische Armee. Aber es gibt Widersprüche bezüglich der von den QSD befreiten Gebieten und der Türkei. Die QSD sind effektiver als die syrische Armee. Warum sollten die QSD dann nicht zum Kern einer zukünftigen Armee eines demokratischen Syriens werden?

Glauben Sie, dass die Kämpfe im Sudan, in Libyen und im Irak die Entschlossenheit der arabischen Regierungen verstärkt haben, die Autorität des syrischen Regimes zu stützen?

Das ist ein Fehler. Wir glauben, dass die Macht monopolisiert ist. Arabische Armeen unter nationalistischen Regimen schützen eher die Macht und die Ressourcen als das Volk. Die Armeen schützen die Machthaber. Man hat nie gesehen, dass sie das Volk schützen. In Syrien haben wir gesehen, wie die Armee viele Gebiete aufgegeben hat und nach Damaskus marschiert ist, um das Regime und die Baath-Partei zu schützen. Das ist nicht die Armee, die wir wollen. Die QSD wollen eine Armee sein, die das Volk schützt und nicht die Machthaber. Im Sudan sehen wir die Folgen der Monopolisierung von Macht. Die ohnmächtigen und verwundbaren Menschen sind unorganisiert und wissen nicht, wie sie mit den Kämpfen umgehen sollen. Der Staat hat versagt. Daraufhin intervenierten andere Kräfte und unterdrücken das Volk. Mohammed Hamdan Dagalo und Abdel Fattah al-Burhan streiten weiterhin darüber, wer das Recht hat, die Interessen des sudanesischen Volkes zu vertreten. Jeder von ihnen konzentriert einen Teil der Macht und der Ressourcen auf sich und versucht, diese zu behalten. Wenn die Zentralregierung nicht aus dem Volk kommt und sich nicht auf bestimmte Kriterien stützt, wenn sie das Volk nicht repräsentiert, dann ist sie nichts anderes als eine große Last. Zentralregierung und Armee schützen Macht und Ressourcen und sind etwas ganz anderes als eine Armee, die das Volk und seinen Staat schützt.

Wie entwickeln sich die Beziehung zu den USA? Gibt es die Zusicherung, dass die USA weiter in der Region präsent sein werden?

Der Vorsitzende der US-Generalstabschefs besuchte die Region, um militärische Fragen und insbesondere den Kampf gegen den Terrorismus zu erörtern. Er traf sich mit seinen Ansprechpartnern, um dieses Thema zu besprechen und nichts anderes. Als Politikerinnen und Politiker haben wir von diesem Besuch erst erfahren, nachdem er Syrien verlassen hatte. Die Beziehungen zwischen den beiden Seiten beruhen auf gegenseitigen Interessen. Die USA haben ihre eigenen Interessen und wir haben unsere eigenen Interessen. Das gemeinsame Interesse zeigte sich in der Bekämpfung des Terrorismus in Kobanê. Die USA haben interveniert und erkannt, dass wir im Kampf gegen den Terror wirklich entschlossen sind. Für uns ist es eine Frage des Überlebens. Sie haben erkannt, dass wir die effektivste Kraft sind. Deshalb haben sie beschlossen, mit uns zusammenzuarbeiten, und diese Zusammenarbeit dauert immer noch an. Die Vereinigten Staaten versuchten, eine andere Kraft im Nahen Osten zu finden, die bereit wäre, mit ihnen im Kampf gegen den Terror zusammenzuarbeiten. Sie versuchten, Ausbildungsbataillone aufzustellen, gaben Geld und Waffen, aber alle ihre Bemühungen scheiterten. Wenn sie tatsächlich den Terror beseitigen und ihre Interessen im Nahen Osten schützen wollen, sollten sie bei diesem Unterfangen ein ehrlicher Partner sein. Solange wir existieren und den Terrorismus bekämpfen, werden unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten auf dieser Grundlage fortbestehen. Solange der Terrorismus, der „Islamische Staat“ und die Terroristen eine Bedrohung für uns darstellen, glaube ich, wird die Zusammenarbeit fortgesetzt. Die Terroristen nutzen Länder wie die Türkei, die den Terrorismus unterstützen und sie auch weiterhin bewaffnen. Manche Menschen glauben, dass wir eine Marionette der Vereinigten Staaten wären. Das ist nicht wahr. Wir sind keine Marionette und haben nie irgendwelche Befehle von dort ausgeführt. Die USA kamen nach Syrien, weil ihre Interessen es verlangten und unsere Interessen eine Zusammenarbeit erforderten. Nehmen Sie Raqqa als Beispiel. Wir mussten es vom „Islamischen Staat“ zurückerobern. Hätten wir das allein gemacht, ohne die internationale Koalition, hätte es fünf oder sechs Jahre gedauert und unsere Verluste wären riesig gewesen. Wir haben Zeit und Ressourcen gespart, indem wir mit der internationalen Koalition zusammengearbeitet haben, um den „Islamischen Staat“ zu besiegen und Raqqa binnen fünf Monaten zu befreien. Warum sollten wir also nicht zusammenarbeiten? Wir haben Raqqa nicht den USA oder der internationalen Koalition zuliebe befreit. Wir haben es befreit, weil von Raqqa die Autobomben ausgesandt wurden, die in Kobanê und Qamişlo explodierten.