Celle: „Es ist ein schwarzer Tag für uns ...“

Hunderte Menschen haben in Celle der Opfer des IS-Massakers an den Ezid*innen in Şengal vor sechs Jahren gedacht und Unterstützung für die Überlebenden eingefordert.

Weltweit fanden am 3. August Veranstaltungen im Gedenken an die 2014 im Hauptsiedlungsgebiet der ezidischen Bevölkerung im nordirakischen Şengal-Gebirge durch den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) ermordeten, verschleppten und missbrauchten Ezid*innen statt.

In Celle beteiligten sich über 300 Personen an einer vielfältigen Kundgebung im zentralen Trift-Park, um gegen diesen noch andauernden Feminizid und Genozid zu protestieren und mit einer öffentlichen Gedenkminute den Opfern des Massakers zu gedenken. Auch in zahlreichen weiteren Städten in Deutschland und anderen europäischen Ländern versammelten sich Menschen, um an die Betroffenen der IS-Gewaltherrschaft zu erinnern. Sie riefen dazu auf, das Ende der Verfolgung voranzutreiben, sich für die Suche nach und die Befreiung von noch immer vermissten Ezid*innen einzusetzen und nicht zuletzt für eine nationale wie internationale Anerkennung des Völkermordes sowie Unterstützung der ezidischen Gemeinschaft einzutreten.

Neben dem Dachverband des Ezidischen Frauenrates hatten auch die feministische Kampagne „Gemeinsam kämpfen. Für demokratische Autonomie und Selbstbestimmung“, das Bunte Haus e. V., die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA), das Ezidische Kulturzentrum Celle, „Meclîsa Şingalî“, „LIST“, „Attac“, und „Fridays for Future Celle“ sowie „Parents for Future Celle“ zur Teilnahme an der Veranstaltung aufgerufen.

Gedenken für die ermordeten, vertriebenen, versklavten Ezidinnen

Der plötzliche Rückzug der Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK aus der Şengal-Region im Jahr 2014 bedeutete die Auslieferung der ezidischen Gemeinden an den IS. Mehrere Zehntausende Vertriebene konnten damals durch einen von den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ), der Frauenguerilla YJA-Star und den Volksverteidigungskräften (HPG) verteidigten Korridor vor dem IS nach Rojava (Nordostsyrien) fliehen. Internationale Hilfe blieb aus. Diesem Genozid des IS an den Ezid*innen fielen etwa 10.000 Menschen zum Opfer, bis zu 7.000 Frauen und Mädchen wurden von IS-Anhängern verschleppt, vergewaltigt, versklavt und auf Sklavinnenmärkten bis in die Vereinigten Arabischen Emirate, nach Katar oder in die Türkei verkauft, häufig mehrfach hintereinander.

Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) befreiten seitdem viele Ezid*innen aus der IS-Gefangenschaft, gleichzeitig werden bis heute etwa 3.500 Frauen und Mädchen vermisst. Wie viele von ihnen noch gefangen sind, wie viele sich aufgrund brutaler patriarchaler Gewalt das Leben genommen haben, wie viele in Gefangenschaft getötet wurden, ist nach wie vor ungeklärt.

Gegen diesen menschenverachtenden Vernichtungswillen, der sich gegen Frauen, gegen die Ezidinnen, ihre Kultur, ihren Glauben und ihr gesellschaftliches Miteinander richtet, stehen weltweit Frauen und Anhänger*innen demokratischer Gesellschaften auf. Sie fordern das Ende des Genozids, das Ende des Feminizids, sie stehen auf gegen sexualisierte Gewalt, gegen Kriege und Ausbeutung und gegen die damit einhergehende Zerstörung der Lebensgrundlagen unseres Planeten. Sie rufen dazu auf, die Grundlagen des patriarchalen Systems nachdrücklich zu erschüttern und die Selbstorganisierung von Frauen voranzutreiben.

Neben dem Aufbau selbstorganisierter Geflüchteten-Camps inklusive des Aufbaus eigener Bildungs- und Frauen-Strukturen sind viele Ezidinnen auch zurück nach Şengal gegangen. Dort arbeiten sie am Aufbau der Selbstverwaltung und haben mit den Fraueneinheiten Şengals (YJŞ) die Basis für eine autonome Selbstverteidigung zum Schutz ihrer Rechte geschaffen.

Anerkennung, Aufarbeitung, Autonomie

Nachdem die internationale Gemeinschaft 2014 zunächst nicht reagierte, sind heute die Forderungen nach sofortiger Beendigung sowie Anerkennung des Genozids/Feminizids, nach der Verfolgung der Täter, Anstifter, Beihelfer und Unterstützer sowie nach einem Status für Şengal zentral. „Selbstbestimmung, Selbstverwaltung ist unser Recht und diese werden wir einfordern. Wir fordern die internationale Gemeinschaft dazu auf, den Genozid vom 3. August 2014 offiziell als Feminizid anzuerkennen. Die UNO, das europäische Parlament und alle anderen Staatengemeinschaften sind gefordert, für den Schutz der Eziden Sorge zu tragen", sagte eine Vertreterin des Zentralverbandes der Jesidischen Vereine in Deutschland.

Die Überlebenden hoffen auf eine ezidische Autonomieverwaltung der Region Şengal. Die neu erarbeitete Selbstbestimmungsstruktur der Ezid*innen im Nordirak bedarf internationaler Unterstützung, die jetzt erfolgen muss: Anerkennung der aufgebauten demokratischen Volksräte und der Selbstverwaltung inklusive der ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ (Widerstandseinheiten Şengals) YJŞ (Fraueneinheiten Şengals), die sich zum Schutz und zur Befreiung der Region gründeten, um ähnliche Angriff nie wieder geschehen zu lassen.

Zur Entstehung von Sicherheit in Şengal gehört auch, der Türkei keine weiteren Bombardierungen zu ermöglichen: durch eine Flugverbotszone über Regionen, die von Angriffen der Türkei betroffen sind, darunter Şengal und Mexmûr, sowie durch den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen an die Türkei und andere kriegsführende Kräfte.

Internationale Konsequenzen werden auch für jene Staaten gefordert, die sich bei diesem Genozid mitverantwortlich gemacht haben, etwa durch Unterstützung des IS, so wie es der türkische Staat getan hat.

Die Lücke fehlender internationaler Hilfe muss geschlossen werden: Der Wiederaufbau in Şengal bedarf gezielter Unterstützung. Die Betroffenen, sowohl vor Ort in Camps als auch hier in Deuschland, sind aufgrund rassistischer Verhältnisse und Angriffe noch immer nicht sicher vor Übergriffen. Es braucht u. a. traumatherapeutische Unterstützung der Überlebenden, juristische Sicherheit durch zeitnahe Verurteilung bereits gefasster IS-Anhänger*innen und Mitarbeit beim Wiederaufbau der Şengal-Region für eine sichere Zukunft der ezidischen Gesellschaft.

Erinnerung heute

Bei der Veranstaltung in Celle trugen Kinder weiße Stirnbänder und T-Shirts mit dem Datum des IS-Angriffs und den Begriffen „Genozid" und „Völkermord". Es wurden Fotos von der damaligen Massenflucht gezeigt. Solidarisch zeigte sich die Kreuzkirche Neuenhäusen mit dem Läuten der Kirchenglocken zur Schweigeminute um 17.30 Uhr.

Auf Kurdisch sprachen unter anderem Vertreter*innen von Hêvî e.V. - Hilfe für Frauen in Not, DIE LINKE, des Ezidischen Kulturzentrums und der Außenarbeit von Şengal. Auf Deutsch wurden Reden gehalten von Vertreter*innen des Zentralverbandes der Ezidischen Vereine in Deutschland, der Gedenkstätte Bergen-Belsen sowie der Parteien DIE LINKE, SPD, Grüne und CDU, darunter der stellvertretende Bürgermeister von Celle.

Anschließend stimmte eine Mutter ein traditionelles Klagelied über die Geschichte des ezidischen Volkes im Gedenken an all die verlorenen Töchter, Söhne, Verwandte und Freunde an – ein sehr berührender und emotionaler Moment für alle Anwesenden. Dieses Lied stellt einen wichtigen Teil ezidischer Kultur dar, denn so wird Geschichte weitergegeben: über lange Lieder, die das Passierte aufnehmen und wiedergeben, damit es nicht in Vergessenheit gerät.

Am Ende präsentierte die feministische Kampagne „Gemeinsam Kämpfen" ein kurdisches Lied, dessen Text sowohl im kurdischen Original als auch in deutscher Übersetzung auf Schildern hochgehalten wurde. Außerdem waren exemplarisch Tafeln mit jeweils den Namen und Geburtsjahren 100 Getöteter ausgestellt, um das Ausmaß des Massakers sichtbarer zu machen und der Menschen allen Alters zu gedenken, die am 3. August 2014 starben - darunter Großeltern wie Kleinkinder. Zusätzlich war eine Leine gespannt, an die Menschen ihr Gedenken und ihre Wünsche aufschreiben und aufhängen konnten.

Viele Teilnehmende waren sich einig: „Nächstes Jahr am 3. August werden wir wieder da sein, das Leid der Ermordeten, Verschleppten, Missbrauchten wird nie vergessen werden."