Camp Hol: „Kinder lernen foltern und töten“
Zwei weibliche IS-Angehörige aus Camp Hol berichten von durch die Türkei gegründeten Rekrutierungsorganisationen und dem Leben als Frau im Lager. Beide fordern ihre Herkunftsländer auf, sie zurückzuholen.
Zwei weibliche IS-Angehörige aus Camp Hol berichten von durch die Türkei gegründeten Rekrutierungsorganisationen und dem Leben als Frau im Lager. Beide fordern ihre Herkunftsländer auf, sie zurückzuholen.
Die Anti-IS-Operation im Camp Hol in Zusammenarbeit mit QSD und YPJ dauert weiterhin an. Insgesamt leben etwa 57.000 Menschen in dem Auffang- und Internierungslager, davon sind fast die Hälfte Kinder. Schätzungsweise 15 Prozent der dort lebenden IS-Anhänger:innen haben sich aus Ländern außerhalb des Irak und Syriens der islamistischen Terrororganisation angeschlossen, immer mehr von ihnen versuchen nun, ihre Herkunftsstaaten dazu zu bewegen, sie zurückzuholen.
Zwei Frauen, die ebenfalls in ihre Herkunftsländer zurückkehren möchten, berichteten im Interview mit der Nachrichtenagentur ANHA, wie sie mit Hilfe von in der Türkei gegründeten Rekrutierungsorganisationen und Tarnvereinen nach Syrien einreisen und sich dem IS anschließen konnten.
„Sie locken mit dem Versprechen eines bequemen Lebens“
Ayşe Selim, eine uygurische Frau aus Turkestan, die zwei Jahre lang in Istanbul gelebt hat, berichtet, wie leicht sie sich 2016 dem IS anschließen konnte. In ihrer Heimat wurde Ayşe mit 14 Jahren verheiratet. Als ihr Mann und zwei ihrer Söhne wegen islamistischem Extremismus verhaftet wurden, flieht sie 2014 mit drei Kindern in die Türkei. „In der Türkei leben viele Menschen aus Turkestan“, erzählt Ayşe, „hier wurden Organisationen und Vereine gegründet, die Menschen für den IS gewinnen und ihnen helfen, nach Syrien zu kommen. In Idlib gibt es die gleichen Vereine und Organisationen.“ Sie sei eines Tages von einem Mann, ebenfalls aus Turkestan, telefonisch kontaktiert worden. Woher er ihre Nummer hatte, wisse sie nicht. Der Mann forderte sie auf, nach Syrien zu kommen. Er habe ihr versprochen, dass sie dort kostenlos wohnen könne und jeden Monat Geld bekommen würde. Das Angebot zu heiraten habe sie abgelehnt. Ihr Leben sei sehr schwierig gewesen, erzählt Ayşe. „Dann geht doch zum IS“ habe man ihnen gesagt. Viele seien zum IS gegangen mit dem Ziel, zum Märtyrer zu werden.
Die Reise nach Syrien wäre sehr einfach gewesen, berichtet Ayşe weiter. 2016 erreicht sie mit ihren Kindern Raqqa, dort heiratet sie einen alten IS-Anhänger. „Unverheiratete Frauen konnten sich nicht frei bewegen“, erzählt Ayşe. „Mein neunjähriges Kind wurde im Krieg um Bagouz verletzt und starb ein Jahr später. Mein zweiter Mann starb ebenfalls in Bagouz.“
Unbedeckte Hände sind schon ein gefährlicher Regelverstoß
Nachdem die letzte IS-Enklave Bagouz von den YPJ/YPG und QSD befreit wurde, wurde Ayşe mit ihren Kindern in das Camp Hol gebracht. Das Leben im Camp sei schwer, berichtet sie. „Ich habe heute meine Handschuhe vergessen, darum sind meine Hände unbedeckt. Alle Frauen starren auf meine Hände“, sagt die Mutter von sechs Kindern. „Wir werden von den Frauen hier unterdrückt. Wenn wir nicht leben wie sie, brennen sie unsere Zelte nieder. Wir müssen hier schwarz verschleiert der Scharia gemäß leben. Ich habe Angst vor diesen Frauen. Ich weiß nicht, was mir morgen passieren wird, weil ich mit unbedecktem Gesicht mit Ihnen gesprochen habe.“ Frauen, die die Scharia ablehnten, würden umgebracht, berichtet Ayşe.
Niemand kennt die Identität der „Hisba“-Frauen
Die Frauen, die das Camp derart unter ihre Kontrolle gebracht hätten, seien von der Hisba, einer religiösen Institution für die Wahrung der Ordnung der Scharia. Diese Organisation setze sich aus etwa 30 bis 50 Frauen zusammen, auch ausländische Frauen seien dabei. Sie seien speziell in den Vorgaben der Scharia ausgebildet. Niemand kenne die Identität der Hisba-Frauen, Fragen zu stellen sei verboten. Diese Frauen haben andere Frauen im Lager zu ihren Spitzeln gemacht, die dem Geheimbund über abweichendes Verhalten von im Camp lebenden Frauen berichten, erzählt Ayşe. Für die Ausspionierten gebe es kein Entkommen, die Vollstreckerinnen würden in den späten Abendstunden in die Zelte eindringen und ihren Opfern die Hände und Beine brechen.
„Wir haben an der Grenze keinen einzigen Soldaten gesehen“
Albina Abdulselam Abdullah, eine gebürtige Russin, die sich ebenfalls dem IS angeschlossen hatte und in Camp Hol lebt, berichtet in dem Interview über ihre Einreise nach Syrien: „Mein Mann, meine Kinder und ich kamen 2016 mit dem Flugzeug in die Türkei. Wir blieben einige Zeit in der Türkei, bevor wir nach Syrien weiterreisten. An der türkisch-syrischen Grenze haben wir auf dem gesamten Weg keinen einzigen Soldaten gesehen.“
Zunächst seien sie nach Raqqa gekommen, berichtet Albina: „Dort wurden wir Frauen von den Männern getrennt. Ständig wurden wir beschossen.“
„Unsere Kinder lernen, Menschen zu foltern und zu töten“
Im Camp fühle sie sich bedroht. „Wir haben ständig Probleme mit den Frauen hier. Die beschuldigen uns, weil wir uns vom IS abgewendet hätten. Wir möchten hier nicht länger bleiben. Meine Kinder bekommen hier keine Schulbildung“, so Albina weiter. Menschen zu foltern und zu töten sei das einzige, was die Kinder im Camp lernen würden.
Albina, die russische Staatsbürgerin ist, fordert von Russland, sie und ihre Familie zurückzuholen. „Wir können hier nicht mehr leben“, sagt sie zum Abschluss.