Dr. Michael Wilk, Notarzt und Psychotherapeut aus Wiesbaden, war seit 2014 immer wieder in Nordsyrien. Er unterstützte dort den Kurdischen Roten Halbmond (Heyva Sor a Kurd), bildete aus, versorgte Verletzte bei den Kämpfen um Minbic (Manbidsch) und Raqqa, beriet beim medizinischen Aufbau in Şengal.
Gestern war Michael Wilk auf Einladung der Hamburger Linksfraktion für eine Veranstaltung im DGB-Haus am Besenbinderhof. Begrüßt wurde er von Cansu Özdemir und Norbert Hackbusch von der Linksfraktion Hamburg.
Zunächst berichtete Michael Wilk von der katastrophalen medizinischen Lage zu Beginn des Krieges in Rojava. Zum Beispiel hätte 2014 während des Krieges gegen den IS und al-Nusra nur ein einziger Chirurg in der Stadt Serêkaniye in 24-Stunden-Schichten operiert. Insbesondere Ärzte hatten das Land mit Ausbruch des Krieges verlassen. Zwar könnten medizinische Gerätschaften wie Rettungswagen und Inkubatoren in der Region gekauft werden, es sei aber aufgrund des Embargos sehr schwierig, sie über die Grenze nach Nordsyrien zu schaffen.
Immer wieder betonte Michael Wilk die gute Arbeit des Kurdischen Roten Halbmonds. „Ich sehe mich selbst als Mitglied dieser Organisation“, erklärte er. Die Demokratische Selbstverwaltung hätte über die Kommunen Listen darüber erstellt, welche Menschen geringe finanzielle Mittel hätten. Für diese sei die medizinische Versorgung inklusive Medikamente kostenlos. Wilk zeigte Bilder von dem durch al-Nusra und die syrische Armee zerbombten ehemaligen staatlichen Krankenhaus in Serêkaniye. Aktuell sei alles wieder aufgebaut und mehrere OP-Säle seien in Betrieb. Die Türkei bombardiere jedoch gezielt auch medizinische Einrichtungen in der Nähe der Grenze, so dass einige mühsam aufgebaute Einrichtungen wieder aufgeben werden mussten. Auch Bilder vom Aufbau des Krankenhauses in Til Temir und der Augen- und Herzklinik in Qamişlo beeindruckten. Das sei zwar wunderbar, aber noch nicht ausreichend. Der weitere Aufbau sei eine Frage der Finanzen, so der Wiesbadener Mediziner.
Oftmals sei wunderbar operiert worden, die fehlende Nachbehandlung habe dann aber doch dazu geführt, dass Menschen in der Folge nicht wieder laufen konnten. Daher wurde aus Deutschland eine krankengymnastische Ausbildung angeboten, unter anderem durch Freunde von Michael Wilk, was zu großen Erfolgen führte. 21.000 Menschen sind im Krieg gegen den IS verletzt worden, viele haben Gliedmaßen verloren.
Die Rolle der NATO-Staaten und Russlands
Michael Wilk war auch in Şehba. Er berichtete davon, welch unbeschreibliche Verbrechen die türkische Armee in Efrîn begangen habe, mit dem Wissen und der Unterstützung der gesamten NATO. Unzählige Menschen seien auf der Flucht gestorben. Russland trage die Verantwortung für dieses Verbrechen, weil es den Luftraum für die Bombardements geöffnet hat. Die NATO habe die Unterstützung der Türkei trotz dieser Verbrechen fortgesetzt, Außenminister Sigmar Gabriel Waffen geliefert.
Es käme auch nicht zu Prozessen gegen IS-Angehörige in Deutschland, weil die NATO-Staaten kein Interesse daran hätten, dass diese detailliert erzählen, wie eng sie mit der Türkei zusammen gearbeitet hätten, durch diese ausgebildet und bewaffnet wurden.
„Wir alle müssen Druck machen“
Zuletzt berichtete Michael Wilk auch von dem Camp Hol, in dem mehr als 73.000 Menschen untergebracht sind. Er betonte, dass das militärische Ende des IS noch nicht bedeute, dass der IS endgültig besiegt sei, denn die islamistische Ideologie lebe in den Menschen weiter. „Dort halten sich momentan Abertausende IS-Angehörige auf“, so Michael Wilk. Es sei schwer, Täter und Opfer voneinander zu trennen. Man versuche, die Menschen in verschiedenen Bereichen der Zeltstadt zu organisieren. Viele Frauen seien total verschleiert, sogar ganz kleine Mädchen. „Wir alle müssten Druck machen, damit sich die Bundesregierung nicht ihrer Verantwortung entzieht“, sagte Wilk.
In Orten wie Raqqa oder Minbic sei Heyva Sor während aller Kriegshandlungen vor Ort gewesen, um die Kranken und Verletzten zu versorgen, das würde von der Bevölkerung auch gesehen und anerkannt. Der Kurdische Rote Halbmond habe mit einigen hundert Freiwilligen angefangen, nun arbeiten Tausende für die Organisation, viele immer noch ehrenamtlich, aber auch sie hätten Familien, die von irgendetwas leben müssten. Ein Problem sei, dass ausländische NGOs wie zum Beispiel „ Ärzte ohne Grenzen“ Ärzte abwerben, indem sie den zehnfachen Lohn zahlten, der in Nordsyrien üblich sei.
Bedingungen des Auswärtigen Amtes für Unterstützung
Der Hamburger Mediziner Eray Öztürk, der ebenfalls bereits mehrmals in Rojava gewesen ist, berichtete darüber, dass die meisten NGOs und Hilfsorganisationen nicht mit der Selbstverwaltung zusammenarbeiteten. Das Auswärtige Amt stelle zwei Bedingungen, um Projekte in Rojava Nordsyrien zu unterstützen: 1. Keine Zusammenarbeit mit der Demokratischen Selbstverwaltung und 2. Keine Einstellung von deutschen Staatsangehörigen. Ohne Einhaltung dieser Bedingungen gebe es keine Unterstützung von Projekten vor Ort. Momentan erhalte eine amerikanische Organisation Gelder von der Bundesregierung, sie unterstütze deutsche IS-Familien in Nordostsyrien. Ziel sei vermutlich, diese Familien letztendlich auszubürgern.
Alle können Unterstützung leisten
Michael Wilk betonte am Ende noch einmal, dass jeder Mensch etwas tun könne und müsse, um Rojava und Nordostsyrien zu unterstützen. Insbesondere Mediziner hätten die Möglichkeit, direkt vor Ort zu arbeiten oder an der neugegründeten Fakultät für Medizin zu unterrichten. In Hamburg ist ein Treffen von Ärztinnen und Ärzten am 25. Juni im UKE geplant, um diese Arbeit zu koordinieren.
Auch von hier aus könne viel Arbeit geleistet werden, erläuterte Wilk. Es sei notwendig, Druck auf die Bundesregierung auszuüben, Verantwortung zu übernehmen, die demokratische Selbstverwaltung anzuerkennen, damit Rojava/Nordsyrien nicht zwischen dem Assad-Regime und der Türkei zerrieben werde. Alle medizinischen Projekte sollten unbedingt mit dem Kurdischen Roten Halbmond zusammenarbeiten. Heyva Sor arbeite zwar eng mit der Selbstverwaltung zusammen, sei aber unabhängig.