Doktor Michael Wilk: Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst
Der Wiesbadener Notfallmediziner Michael Wilk äußert sich aus Qamişlo zur Besatzung Efrîns.
Der Wiesbadener Notfallmediziner Michael Wilk äußert sich aus Qamişlo zur Besatzung Efrîns.
Zum wiederholten Male ist Michael Wilk nach Nordsyrien gereist, um den Menschen als Arzt beizustehen. Auf seiner Facebook-Seite äußerte er sich gestern zu seinen Beobachtungen vor Ort und der falschen Darstellung in den Medien:
„Die Besetzung Afrins durch die türkische Armee und fundamental islamistische Hilfstruppen, wird durch eine Propagandaschlacht ungeheuren Ausmaßes flankiert. Es wird gelogen, Falschinformationen werden gezielt verbreitet, mit dem Ziel, Erdogans Krieg als sauberen Einsatz gegen Terroristen dastehen zu lassen. Unter anderem wird behauptet, die Selbstverteidigungseinheiten der YPG hätten Fliehende daran gehindert die Region zu verlassen. Bei der Befragung unterschiedlicher Zeugen wurde mir jedoch glaubhaft versichert, das Gegenteil sei der Fall gewesen. Vielmehr seien die Menschen aufgefordert worden, dies zum Teil über Lautsprecher der Minarette, die Stadt zu verlassen. Nachweislich ist genau dies geschehen. Dadurch konnte die Anzahl der Opfer reduziert und die völlige Zerstörung der Stadt vermieden werden.“
Keine zivilen Opfer?
„Ebenso wird von Seiten der Agressoren hartnäckig behauptet, es hätte keine oder kaum zivile Opfer gegeben. Unzählige Dokumente bezeugen das Gegenteil. Die Opfer wurden seit Beginn der Auseinandersetzung am 20. Januar zumeist namentlich erfasst und zum Beispiel durch den kurdischen roten Halbmond (Heyva Sor a Kurd) veröffentlicht. Die Dokumentationen wurden mit der Aufforderung zur Hilfe international verbreitet. Erfolglos. Weder die internationale Staatengemeinschaft, noch die EU, ganz zu schweigen von der Bundesregierung, zeigten nennenswerte Reaktionen. Zeitgleich erfolgten Waffenlieferungen an den NATO-Partner Türkei, wurden Unsummen zur Flüchtlingshilfe gezahlt. Eingedenk der Tatsache, dass die militärische Intervention der Türkei nun gerade erst eine Fluchtbewegung Hunderttausender Menschen auslöst, eine Perversion.
Diese Tatsache wurde jedoch noch an Perfidie übertroffen, indem man diejenigen, die gegen den Terror auf die Straße gehen, kriminalisiert und drangsaliert, nur weil sie die Symbole der kurdischen Verbände öffentlich zeigen, die im Bündnis mit u.a. den USA den IS vertrieben.
Der kurdische rote Halbmond veröffentlichte vor zwei Tagen eine Szene aus dem Krankenhaus von Afrin, es zeigt laut Angaben die Notaufnahme des Krankenhauses, noch bevor es selbst von Bomben getroffen wurde. Der Film dokumentiert zivile Opfer, auch Kinder und Jugendliche. Sie wurden offensichtlich alle zum gleichen Zeitpunkt eingeliefert. Sie zeigen die Auswirkungen massiver Gewalt auf menschliche Körper in erschreckender Deutlichkeit. Schreiende Verletzte und Angehörige, Helferinnen und Helfer, die sich um die im Blut Liegenden bemühen. Die Szenen sind geeignet, den Betrachter psychisch zu schädigen. Ich habe deshalb darauf verzichtet sie ins Netz zu stellen, habe sie jedoch Kollegen und Kolleginnen, sowie vereinzelten seriösen Medien zugänglich gemacht. Sie den politischen Vertretern und den Verantwortlichen der Politik zu schicken, wäre eine Option. Ich denke jedoch, angesichts der unglaublichen Ignoranz, der hemmungslosen und von jeden Skrupeln entblößten Haltung der deutschen politischen Entscheider, können Bilder zu wenig bewirken.
Da sie die Moral nicht haben, da sie nicht über das Maß an Anstand und Respekt verfügen, da sie nicht die Augen und Ohren haben, das Elend zu vermerken, das sie verursachen, liegt es an uns: Lasst nicht nach im Protest, tut alles was möglich ist. Die Menschen hier wissen von euren Bemühungen, das gibt ihnen Hoffnung.“