Die türkische Armee und ihre islamistischen Hilfstruppen eskalieren die Aggression gegen Siedlungsbiete im Chabur-Tal im Nordosten von Syrien. Im Fokus der auf eine Ausweitung der Besatzungszone abzielenden Zermürbungsangriffe steht die hauptsächlich christlich besiedelte Stadt Til Temir und Dörfer im näheren Umland. Nabil Warda von der Generalkommandantur des assyrischen Kampfverbands „Wächter des Chabur“ bezeichnet die Attacken als Teil eines „Zermürbungskrieges”, um die Region zu entvölkern.
„Seit nunmehr zwei Monaten schlägt in den Dörfern des Chabur-Tals beinahe täglich Artillerie ein. In der Regel richten sich die Bombardierungen gegen ausschließlich christlich besiedelte Ortschaften”, sagt Warda. Besonders intensivem Artilleriefeuer werden nach Angaben des Assyrers das rund zehn Kilometer westlich von Til Temir liegende Dorf Tall Tawil, das auch als Bnay Roumta bekannt ist, Tall Jumah und Tall Kafshi im Nordwesten der Stadt, sowie Tall Schanan gesetzt. Alleine dort schlugen nach Angaben von Nabil Warda vergangenen Donnerstag rund sechzig Artilleriegranaten binnen 24 Stunden ein. Getroffen wurde auch der Friedhof der Ortschaft. Mehrere Grabsteine sind zerbrochen, einige Gräber wurden sogar durch die Wucht der Detonationen aus dem Fundament gerissen. Neben Bewohnerinnen und Bewohnern von Tall Schanan sind auf der Ruhestätte auch Gefallene der Chabur-Wächter begraben.
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
„Die Türkei verübt Kriegsverbrechen. Damit will sie die angestammte Bevölkerung in die Flucht treiben, um ihre islamistischen Söldner anzusiedeln”, meint Warda. „Schon bei der Besatzung von Efrîn hat der türkische Staat Friedhöfe bombardiert. Wir kennen diese Vorgehensweise. Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, so der Kommandant.
Nabil Warda von den Mawtba d-Natore d-Habor
Im Chabur-Tal und dem näheren Umland wurden seit Beginn der Invasion vom Herbst 2019 und der damit einhergehenden Besetzung von Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) bereits mehr als achtzig Dörfer, Weiler und Siedlungen vom Nato-Mitglied Türkei und angegliederten Dschihadistenmilizen des Söldnerverbands „SNA” besetzt. Vielerorts leben in den Häusern der vertriebenen die Familien von Islamisten. „Wir als Chabur-Wächter sehen in den Kriegsmethoden der Türkei eine Fortsetzung von 1915. Es geht darum, uns auszulöschen”, sagt Warda.
Genozid von 1915
Ähnlich wie die Armenierinnen und Armenier wurden auch die anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich im Verlauf des Ersten Weltkriegs Opfer eines Genozids unter Verantwortung der jungtürkischen Regierung. Deportationen und Massaker kosteten zwischen 1914 und 1918 das Leben von mindestens 1,5 Millionen Angehörigen der armenischen Nation, 500.000 aramäische, assyrische und chaldäische Suryoye, mehreren hunderttausend Pontosgriech:innen und anderer nicht-sunnitischer Bevölkerungsgruppen wie der ezidischen und nestorianischen Gemeinschaften. Die Suryoye bezeichnen dieses dunkle Kapitel ihrer Vergangenheit als Seyfo oder Sayfo (aramäisch für Schwert).
Die Geschichte von Til Temir
Entlang des Chabur-Tals erstreckt sich der Fluss Chabur. Hier, wo die Stadt Til Temir (kurdischer Name: Girê Xurma), ein Spiegelbild des Bevölkerungsmosaiks Syrien liegt, ließen sich 1933 die Nestorianer – Assyrer:innen aus Colemêrg (tr. Hakkari) –, die während des jungtürkischen Genozids in den Norden des Iraks geflohen waren, nieder. Das Siedlungsgebiet bekamen sie vom Völkerbund in Genf zugesprochen. Ihrem zweiten Exodus ging das Massaker von Simele voraus: etwa 9000 Assyrer:innen, vor allem Männer und Jugendliche, wurden in verschiedenen Dörfern in der südkurdischen Region Dihok ermordet. Das besonders betroffene Dorf Simele wurde Namensgeber dieses Genozids.
Weniger als tausend Christen übrig
Die Assyrer:innen aus Colemêrg gründeten im flachen Tal des Chabur 33 Dörfer, chaldäische Christinnen und Christen ließen sich in weiteren drei Dörfern nieder. Vor Kriegsbeginn 2011 lebten hier noch etwa 20.000 Menschen aus der assyrischen Gemeinde, in fast jeder Ortschaft gab es eine Kirche. Jetzt sind keine 1.000 Menschen mehr übrig. Wegen der Dschihadisten flohen fast alle Bewohner ins Ausland, die meisten gingen nach Kanada, Australien oder in die USA. Einige der Dörfer sind völlig leer, die Gebliebenen sind meist ältere Leute. Auch leben inzwischen einige hundert Binnenvertriebene aus anderen Regionen des Landes in Til Temir.