Auch mehr als drei Jahre nach der Besatzung von Efrîn durch die Türkei und dschihadistische Milizen kommt es in dem ehemals selbstverwalteten Kanton weiterhin zu exzessiver Gewalt, Plünderungen und Vertreibungen. Darauf macht auch das Aktivistennetzwerk AAN (Afrin Activists Network) in seinem jüngsten Bericht zur menschenrechtlichen Lage in der Region im Nordwesten Syriens aufmerksam. Der Report umfasst den Zeitraum vom 21. Mai bis 30. Mai und informiert über Fälle von Entführungen, Raub, Plünderungen, einer massiven Umweltzerstörung, Gewalt, Folter und Mord.
Folterfälle
Laut den Recherchen von AAN ist es in den vergangenen zehn Tagen zu drei Folterfällen in Efrîn gekommen. Im Dorf Şêx wurde der 40-jährige Emin Mihemed Henif Şêx Ebdi von etwa zwanzig Mitgliedern der „Militärpolizei” des türkischen Besatzungsregimes verprügelt. Zuvor war der Mann in seinem Geschäft bereits Opfer eines gewalttätigen Übergriffs durch einen sogenannten Militärpolizisten geworden, weil er sich weigerte, ein verkauftes Gerät wieder zurückzunehmen.
In Raco wurde der 50 Jahre alte Şerîf Hemîd Qenber aus dem Dorf Gewanda am 19. Mai von drei Angehörigen der Miliz „Faylaq al-Sham“ misshandelt, weil seine Ehefrau sich weigerte, den Söldnern die Weidefläche ihrer Tiere zur Verfügung zu stellen.
Zu einem weiteren von Faylaq al-Sham ausgelösten Konflikt um Weidenutzung in Raco kam es am 17. Mai mit Jugendlichen aus der Ortschaft Eltanya. Nach Informationen der „Menschenrechtsorganisation von Efrîn“ wurden drei junge Männer aus dem Dorf in die Basis der Miliz verschleppt. Was ihnen dort widerfahren ist, sei unklar. Mittlerweile sei aber bekannt, dass sie sich „unter Zwang“ mit den Dschihadisten „verständigt“ und ihre Weideflächen zur Verfügung gestellt hätten.
Entführungen
Aus Raco sind am 27. Mai zwei Männer entführt worden. Bei den Verschleppten handele es sich um Mistefa Osman (65) und Horo Ehmed (37) aus dem Dorf Meydan Ekbez. Ihr Schicksal ist unbekannt.
Raub
Im Kreis Şera sind die Weinberge von Ebdurehmen Reşîd und Henan Reşîd aus dem Dorf Metîna geplündert worden. In Raco geschah Gleiches im Weingarten von Mihemed Şikrî, der im Zentrum des Kreises nahe des Gefängnisses lebt. Im Kreis Mabeta wurde der Weinberg von Mistefa Xelîl im Dorf Qenter durch die Miliz Jabhat al-Shamiya geplündert. In Şiyê wurden Anbauflächen des aktuell in der Türkei lebenden Mannes Mistefa Hesen Îbiş aus dem Dorf Qermiliq von Al-Amshat-Milizionären (Gruppe ist auch als „Sultan-Sulaiman-Schah-Brigade” bekannt) beschlagnahmt.
Umweltzerstörung
Ebenfalls in Şîyê ist am 26. Mai ein großes Waldgebiet von der „Samarkand-Brigade“ angezündet und vernichtet worden. Die betroffene Stelle befindet sich unweit des Dorfes Hec Hesna.
Erpressungen
Im nicht vollständig von der Türkei und ihren Verbündeten besetzten Kreis Şêrawa sind etliche Menschen von Schutzgelderpressungen betroffen. Im größtenteils ezidisch besiedelten Dorf Birc Abdalo müssen die Bewohner:innen 3.000 US-Dollar „Kopfsteuer“ an die von Abdullah Halawa geführte Söldnergruppe der Miliz „Hamza-Brigade“ zahlen. Die Namen mehrerer Betroffener sind bekannt.
Im Dorf Xelîlak im Kreis Bilbilbê müssen die Bewohner:innen für 40 Kisten Obst und Gemüse, das auf Märkten verkauft wird, 2.000 Syrische Lira „Steuern“ an die Miliz „Sultan-Murad-Brigade“ zahlen. In der Ortschaft Hesen werden vor allem Jugendliche und junge Männer als unbezahlte Arbeitskraft missbraucht. Diejenigen, die sich weigern, würden unter dem Vorwand, der Selbstverwaltung nahezustehen, festgenommen.
Demografische Veränderungen
Auch die demografischen Veränderungen in Efrîn zugunsten dschihadistischer Milizen arabischer Herkunft dauern an. Im Rahmen des von der Türkei entworfenen Kolonialisierungsplans für die Region werden in den Häusern der Vertriebenen die Familien der Dschihadisten untergebracht, das Hab und Gut der eigentlichen Besitzer:innen den Angehörigen des Besatzungsregimes überschrieben.
Geschehnisse in Şehba
Im Kanton Şehba, der sich im Niemandsland zwischen Efrîn und Aleppo befindet, wurden am 25. Mai Felder und Anbauflächen im Dorf Basilê von türkischen Soldaten und Islamisten in Brand gesteckt. Weil sich das angrenzende Dorf Soxenek in Efrîn-Şêrawa unter Besatzung findet, können keine Löscharbeiten vorgenommen werden. Die Flammen wüten weiterhin und haben sich auf ein rieisiges Gebiet ausgeweitet.
Am selben Tag wurde das Dorf Bêlonî nahe der Kleinstadt Tel Rifat von Besatzungstruppen bombardiert. Es entstand schwerer Sachschaden.
Am 27. Mai wurden Wohngebiete am Rand von Tel Rifat sowie die Dörfer Birqas und Miyasê in Şêrawa von Besatzungstruppen unter Artilleriefeuer genommen. Am 29. Mai wurden in Şehba die Dörfer Mişêrfe und Bendava Şehba bombardiert. Zu den Schäden liegen keine gesicherten Informationen vor.
Todesfälle
In der ebenfalls von der Türkei besetzen nordsyrischen Stadt Dscharablus ereignete sich am 24. Mai auf der Straße nach Aleppo eine Detonation. Durch die Explosion eines mit Sprengstoff bestückten Motorrads kamen drei Zivilisten ums Leben. Bereits am 15. Mai starb eine Person bei der Explosion einer Autobombe auf der Strecke zwischen Efrîn-Reco und Şîn. Zudem wurden mehrere Personen verletzt.