Bedran Çiya Kurd, Vizevorsitzender der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien, hat sich im ANF-Interview zur Wahrscheinlichkeit einer neuen Invasion der Türkei in der Region, zu der Belagerung der Grenze nach Rojava durch die Barzanî-Partei PDK in Südkurdistan, dem Wunsch des ENKS („Kurdischer Nationalrat“) nach einer Teilhabe in der Autonomieverwaltung und der aktuellen Haltung der Regierung in Damaskus geäußert.
Die PDK errichtet in Südkurdistan an der Grenze nach Rojava neue Stützpunkte, gleichzeitig hebt die Türkei an der Grenze bei Dirbêsiyê Gräben aus. In der Bevölkerung von Rojava wird über die Wahrscheinlichkeit eines neuen Angriffs diskutiert. Was ist Ihre Meinung zu diesem Thema? Und warum belagert die PDK die Grenze nach Rojava?
Diese Entwicklungen haben nach dem Ankara-Besuch des südkurdischen Präsidenten Nêçirvan Barzanî Anfang September begonnen. Der Besuch fand sehr plötzlich und in einer nicht gerade passenden Zeit statt und hat viele Verdachtsmomente ausgelöst. Zeitgleich fanden heftige Angriffe der Türkei auf die Medya-Verteidigungsgebiete statt. In Südkurdistan wurden zahlreiche Zivilisten getötet, Nord- und Ostsyrien sowie Şengal werden bedroht. Außerdem laufen in unserer Region Gespräche über ein innerkurdisches Bündnis.
Alle fragen sich, warum dieser Besuch ausgerechnet in dieser Zeit stattgefunden hat und was dabei herausgekommen ist. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hat erklärt, es sei eine Einigung mit Nêçirvan Barzanî über den gemeinsamen Kampf gegen die PKK erzielt worden. Die PDK hat sich jedoch nicht geäußert. Während die Menschen und die Parteien im Süden und sogar Bagdad die türkischen Angriffe auf Südkurdistan und die PKK kritisieren, zeigt die PDK keine Reaktion. Im Gegenteil, sie legitimiert die Angriffe des türkischen Staates und sagt, dass es Kämpfe gibt, weil es die PKK gibt.
Diese Politik dient nicht den Interessen der Bevölkerung Kurdistans und der kurdischen Parteien. Es ist in keiner Weise verständlich und hinnehmbar, dass die PDK die auf einen kurdischen Genozid ausgerichtete Politik des türkischen Staates unterstützt. Es kann ja sein, dass die PDK in einigen Bereichen von der Türkei profitiert und auch eine Zusammenarbeit stattfindet. Aber das geht nicht, wenn die Interessen des kurdischen Volkes dafür geopfert werden müssen. Die kurdischen Interessen müssen geschützt werden.
Wie Sie selbst gesagt haben, in der Bevölkerung besteht großes Misstrauen hinsichtlich des Ankara-Besuchs. Die Menschen fragen sich, ob es zu einer gemeinsamen Invasion der Türkei mit der PDK in Rojava kommen wird oder es einen Plan gegen Şengal gibt. Die PDK muss sich sofort dazu verhalten und die Öffentlichkeit in Kurdistan darüber aufklären, was sie mit ihren Bewegungen an der Grenze nach Rojava bezweckt.
Wir hoffen sehr, dass keine kurdische Partei die Interessen unseres Volkes gefährdet und gemeinsame Sache mit unseren Feinden macht. Uns ist bewusst, dass die Stärke Rojavas von der Stärke Südkurdistans abhängt und umgekehrt. Die Zukunft aller Teile Kurdistans hängt voneinander ab. Kein Teil kann herausgerissen werden. Alle Beziehungen müssen auf dieser Tatsache basieren.
Es ist allgemein bekannt, dass die türkische Besatzung eine ständige Gefahr ist. Die türkische Politik der Verleugnung, Bedrohung und Aggression gegen unser Volk wird unvermindert fortgesetzt. Solange sich diese Mentalität nicht ändert, wird die Gefahr andauern. Das kurdische Volk ist Tag für Tag im Norden, Süden und Westen mit der Genozid-Politik konfrontiert. Aktuell steht ein möglicher Besatzungsangriff des türkischen Staates auf die Autonomiegebiete in Nordostsyrien auf der Agenda. Es werden sogar bestimmte Gebiete benannt.
Zu diesem Thema möchte ich sagen, dass wir die Gefahr eines türkischen Angriffs immer einberechnen müssen. Es gibt keine Einigung oder Absprachen mit dem türkischen Staat. Er wird angreifen, wenn er die Gelegenheit findet und die Grundlage dafür bereit ist. Sein Ziel ist es, unsere Errungenschaften zu zerstören und einen Genozid an unserem Volk zu verüben. Auf diese Weise hält er sich an der Macht. Wie unserem Volk bekannt ist, handelt es sich um einen grausamen Feind und wir müssen jederzeit auf neue Angriffe vorbereitet sein.
Die Türkei hat Efrîn mit der Erlaubnis Russlands und Serêkaniyê und Girê Spî mit US-Erlaubnis besetzt. Wie verhalten sich diese Mächte heute zu einer möglichen neuen Invasion der Türkei in Nordsyrien?
Ein erneuter Angriff hängt natürlich nicht nur von der Türkei ab, sondern von den politischen Entwicklungen und der Haltung Russlands und der USA. Sollte es zu einer Vereinbarung oder zu Zugeständnissen kommen, ist ein neuer Angriff möglich.
Im Moment sagen uns alle in Nord- und Ostsyrien präsenten internationalen Kräfte, dass sie einen neuen Angriff nicht zulassen und ablehnen. Die USA sagen, dass sie keine Wiederholung der Situation in Girê Spî und Serêkaniyê wollen. Und Russland sagt, dass es keine Wiederholung von Efrîn will.
Das wird uns gegenüber gesagt, aber es bestehen natürlich nachrichtendienstliche und politische Beziehungen, auch zum Thema Sicherheit. Wir müssen immer damit rechnen, dass diese Länder hinter verschlossenen Türen ganz andere Absprachen treffen und Pläne machen. Wir dürfen uns nicht darauf ausruhen. In unserer gesamten diplomatischen Arbeit geht es darum, einen erneuten Angriff der Türkei zu verhindern. Wir wissen, dass die Türkei ganz Nord- und Ostsyrien besetzen will, und sind immer darauf vorbereitet, uns zu verteidigen.
Die Türkei ist heute zu einer Gefahr für die gesamte Region und für die weltweite Sicherheit und Stabilität geworden. Das haben wir der ganzen Welt mitgeteilt. Heute zeigt sich, dass wir Recht hatten. Inzwischen sind es nicht nur wir, sondern auch die EU, die NATO-Länder, die arabischen Länder, die Kaukasus-Länder sagen es. Auf der UN-Versammlung vor ein paar Tagen haben alle die schlechte Rolle der Türkei angesprochen. Von Indien über die EU bis zu den arabischen Ländern kritisiert jeder die Rolle der Türkei in der Region. Die Türkei isoliert sich zunehmend auf politischer und diplomatischer Ebene. Wenn es so weiter geht, wird die Position der Türkei immer schwächer werden. Die Türkei können wir jedoch nur aufhalten, wenn unser Kampf stark genug ist.
Die Gespräche über ein kurdisches Bündnis zwischen dem ENKS und den „Parteien der geeinten Nation Kurdistan“ (PYNK) dauern weiter an. Es ist beschlossen worden, ein übergeordnetes kurdisches Gremium zu gründen. Der PYD-Politiker Aldar Xelîl hat in einem Interview davon gesprochen, dass die PYNK dazu bereit sind, den ENKS in die Autonomieverwaltung einzubinden. Was sagen Sie selbst darüber?
Der Dialog hat eine gewisse Ebene erreicht. Trotz aller Schwierigkeiten sind einige Schritte gesetzt worden. Es ist eine generelle Einigung über die Einrichtung des genannten Gremiums erzielt worden. Das wird in den kommenden Tagen deklariert werden. Einige Themen sind noch ungeklärt und eines davon betrifft die Frage, wie der ENKS in die Leitung eingebunden werden kann. Auch für den ENKS gibt es dazu noch viel Gesprächsbedarf. Wir gehen davon aus, dass innerhalb dieses Gremiums ein Komitee gebildet wird, dass mit der Autonomieverwaltung über diese Themen beraten wird.
Wie könnte der ENKS denn in die Autonomieverwaltung eingebunden werden?
Unserer Meinung sind Wahlen prinzipiell die beste Methode. Bei einer Einigung muss der Zeitpunkt für Wahlen festgelegt werden, dann können sich alle Seiten darauf vorbereiten. Dass sich alle an den Wahlen beteiligen und entsprechend der Wahlergebnisse an der Leitung beteiligt werden, ist ein demokratisches Recht, eine demokratische Methode. Dazu muss jedoch gesagt werden, dass bereits vor den Wahlen einige Themen diskutiert werden sollten, um den innerkurdischen Dialog zu stärken und seinen Erfolg zu gewährleisten.
Zu den Fragen, wie, in welchen Institutionen und mit wie viel Prozent der ENKS an der Leitung beteiligt werden soll, kann ich nichts sagen. Das sind Themen, die mit der Autonomieverwaltung diskutiert werden müssen und zu denen eine Einigung erzielt werden muss.
Neben der Frage der Verwaltung geht es bei den innerkurdischen Bündnisgesprächen auch um militärische und Sicherheitsfragen. Das genannte übergeordnete kurdische Gremium muss ein Komitee bilden, das mit den YPG und YPJ über diese Themen berät. Das sind die Ansprechpartner innerhalb der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), weil es um Rojava geht. Wir erwarten, dass die ENKS-Abordnung aus Südkurdistan zurückkehrt und deklariert, bei welchen Themen mit den PYNK eine Einigung erzielt worden ist. Damit dann die notwendigen Diskussionen geführt werden können, muss das Gremium themenbezogene Komitees gründen.
Sie haben gesagt, dass der türkische Staat Ihre Gebiete bedroht und bei passender Gelegenheit angreifen will. Die Türkei hält bereits einige Gebiete in Syrien besetzt. Die Autonomieverwaltung will die territoriale Integrität Syriens bewahren. Der Außenminister der Regierung in Damaskus, Walid al-Muallim, hat in einer Rede vor der UN-Vollversammlung die QSD und die Autonomieverwaltung beschuldigt, der Einheit und Bevölkerung Syriens gegenüber feindlich eingestellt zu sein. Wie bewerten Sie das?
Im Moment verhält sich das Regime sehr negativ zu einem politischen Lösungsprozess in Syrien und insbesondere zur Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens. Alle haben die Rede des Außenministers vor der UN-Vollversammlung verfolgt. Er hat ein weiteres Mal die Autonomieverwaltung und die QSD in einem Stil angegriffen, der für eine Lösung und einen Dialog sehr hinderlich ist. Die Realität des Baath-Regimes muss dabei beachtet werden. Es muss gesehen werden, wie seine Haltung Syrien schadet und welchem Grauen es die Bevölkerung ausgesetzt hat. Wenn es seine eigene Realität nicht aufarbeitet und alle paar Tage in sehr schlechtem Stil unsere Leitung beschuldigt, verfolgt es damit den Zweck, die eigene Realität zu vertuschen.
Alle zwei Tage wird behauptet, dass die Autonomieverwaltung Syrien spalten will. Im Grunde genommen ist es jedoch die Mentalität des Baath-Regimes, die Syrien spaltet. Es muss seine eigene Realität erkennen und sehen, wer Syrien wirklich spaltet. Die von der Türkei und ihren Dschihadisten besetzten Gebiete in Nordsyrien sind in einen Teil der Türkei verwandelt worden.
Efrîn, Serêkaniyê, Girê Spî und weitere Gebiete unter türkischer Besatzung werden vollständig über das System der Türkei verwaltet. Dieses System ist einschließlich der Kultur, der Sprache und der Währung auf die Institutionalisierung des türkischen Geheimdienstes und des türkischen Staates ausgerichtet. Alles entspricht der Türkei. Mit Syrien haben diese Gebiete nichts mehr zu tun. Das Verhalten des Regimes in Damaskus macht den Weg frei für die Besetzung weiterer Gebiete durch die Türkei.
Das Regime hat zu Propagandazwecken behauptet, dass die QSD in arabischen Gebieten wie Deir ez-Zor bestimmte Personen getötet oder entführt hat. Eigentlich muss man das nicht weiter kommentieren, denn es gibt viele Beweise dafür, dass der Geheimdienst dahinter steht. Es sind mehrere verdeckte Zellen gefasst worden. Mehrere Personen haben ausgesagt, dass sie für das Regime arbeiten, Morde begangen haben und in unserer Region Chaos stiften sollten.
Es war auch Außenminister Walid al-Muallim, der die Bevölkerung von Deir ez-Zor zum Aufstand gegen die Autonomieverwaltung und die internationale Koalition aufgerufen und gesagt hat: „Protestiert gegen die Kurden, wir stehen euch bei.“ Diese Erklärung war in ganz offener Form darauf ausgerichtet, Konflikte und Chaos in unseren Gebieten auszulösen. Warum ruft al-Muallim nicht die Menschen in al-Bab, Idlib oder Azaz zum Aufstand gegen die Dschihadisten und die Besatzung auf? Das hat er noch nie gemacht. Um unsere Gebiete wieder unter eigene Kontrolle zu kriegen, werden ständig Konflikte geschürt.
Mit seiner Denkweise und der bestehenden Institutionalisierung kann der syrische Staat die Autonomiegebiete jedoch gar nicht regieren. Die Bevölkerung lehnt das ab. Vor wenigen Tag sind erneut zwei Menschen in Raqqa von Unbekannten ermordet worden. Die Bevölkerung hat danach Stützpunkte des Regimes angegriffen, denn die Menschen haben verstanden, dass das Regime hinter diesen Vorfällen steckt. Das ist alles aufgedeckt worden. Al-Muallim erreicht nichts mit seinen Behauptungen, dass die QSD, die Autonomieverwaltung oder die Kurden dies und jenes getan hätten.
Eine weitere Behauptung ist, dass die Autonomieverwaltung und die QSD das syrische Öl stehlen. Und wie war das mit dem IS, als er die Ölquellen erobert hat? Warum sind die Ölfelder nicht verteidigt worden? Oder warum ist nicht versucht worden, das Gebiet vom IS zu befreien? Im Moment ist die Lage so, dass wir die in unseren Gebieten liegenden Ölfelder vom IS befreit haben, dafür sind Menschen gestorben. Die Einkünfte aus den Ölquellen dienen heute dieser Region. Hat das syrische Regime bisher irgendeinen Dienst für die Region geleistet? Es ist die Autonomieverwaltung, die das tut, und dafür nutzt sie die Öl-Einkünfte. Warum hat das Regime nicht den IS des Diebstahls beschuldigt, als dieser das Öl an die Türkei verkauft hat?
All das zeigt, dass eine Zusammenarbeit zwischen dem Baath-Regime und dem faschistischen AKP/MHP-Regime besteht. Es gibt viele geheime Pläne. Beide Seiten haben dieselbe politische Haltung gegen die Gebiete der demokratischen Autonomieverwaltung. Auf diese Weise wollen sie unsere Gebiete wieder ins Chaos stürzen. In Nordsyrien dürfen die Al-Nusra-Front, der IS oder wer auch immer sein, nur die QSD und die Autonomieverwaltung dürfen es nicht. Die Kurden, die Suryoye und auch die Araber sollen keine Rechte haben.
Aus diesem Grund wird immer wieder schwarze Propaganda betrieben, obwohl jeder weiß, dass es gelogen ist. Die Bevölkerung ist sich dessen jedoch bewusst und steht an der Seite der Autonomieverwaltung und der QSD.