Aldar Xelîl hat sich als Mitglied des Exekutivrats von TEV-DEM (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) im ANF-Interview zur Idlib-Operation des syrischen Regimes und Russlands, die Sabotageversuche des türkischen Staates, die Auswirkungen der Offensive auf Efrîn und die anderen türkisch besetzten Gebiete, die diplomatischen Initiativen der Autonomieverwaltung, die Gespräche mit der syrischen Regierung, den Erarbeitungsprozess einer neuen syrischen Verfassung, die Eröffnung von ENKS-Büros in Rojava und den Gerichtsverfahren gefangener IS-Anhänger geäußert.
Beginnen wir mit dem aktuellen Thema Idlib. Auf der einen Seite geht die Operation Russlands und des syrischen Regimes weiter, auf der anderen Seite widersetzt sich der türkische Staat. Was passiert in Idlib?
Die heutigen Geschehnisse in Idlib sind das Ergebnis früherer Verhandlungen der Türkei, Russlands und des Regimes. Der Syrienkrieg, der begonnen wurde, um die Linie der Muslimbruderschaft in Syrien durchzusetzen, hat später eine andere Ebene erreicht. Bestimmte Absprachen haben dazu geführt, dass die von der sogenannten Opposition gehaltenen Orte nach und nach zurückerobert wurden. Diese bewaffneten Gruppen aus Ost-Ghouta, Hama, Homs, Darayyah, Aleppo und vielen weiteren Orten sind nach Idlib verfrachtet worden. Die Ansammlung Oppositioneller in Idlib erfolgte geplant. Bereits zu jener Zeit war bekannt, dass auch Idlib an die Reihe kommen wird.
Der türkische Einmarsch in Syrien ist mit russischer Genehmigung erfolgt. Dscharablus, al-Bab und Azaz sind dem türkischen Staat als Gegenleistung für den Transfer bewaffneter Gruppen aus bestimmten Regionen in andere Gebiete überlassen worden. Dann ging es mit der Besatzung von Efrîn und später von Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) weiter. Es wurden gegenseitige Zugeständnisse gemacht, die letztlich zu der geballten Präsenz der dschihadistischen Gruppen in Idlib geführt haben. Eigentlich wollten das Regime und Russland Idlib bereits im vergangenen Jahr einnehmen, aber das lehnte der türkische Staat ab. Er wollte nicht, dass die dortigen Dschihadisten sofort liquidiert werden. Jetzt stehen die syrischen Truppen kurz vor der Stadt. Möglicherweise dauert diese Situation noch sechs weitere Monate an. Für das Regime und Russland ist momentan die vollständige Kontrolle über die Verbindungsstraßen M4 und M5 wichtig. Vielleicht werden sıe danach als Ergebnis von Verhandlungen Idlib angreifen.
Die türkische Armee zieht immer mehr Soldaten in Idlib zusammen. In den letzten Tagen ist zu wiederholten Konfrontationen mit der syrischen Armee und Russland gekommen. Zwischen türkischen und russischen Vertretern haben zwei Gespräche stattgefunden, die zu keinem sichtbaren Ergebnis geführt haben. Wie ist das Kriegsgetrommel der Türkei zu interpretieren?
Von Anfang an war klar, dass der türkische Staat niemals an die Bevölkerung Syriens gedacht und kein Programm verfolgt hat, um eine demokratische Opposition zu fördern. Sein einziges Ziel ist es, über andere in Syrien zu intervenieren. Diese Politik wird heute von Erdoğan und Bahçeli als Koalition fortgeführt. Bahçeli sagt beispielsweise ganz offen, dass zuerst Nordsyrien eingenommen muss, um von dort aus auch Mosul und Kerkûk einzunehmen. Auch Erdoğan sagt das offen. Sie tun so, als ob sie sich für die Opposition Syriens einsetzen, und sprechen von der territorialen Gesamtheit Syriens, aber ihre Absichten und ihre Praxis verweisen auf ihre neoosmanischen Träume und eine Besatzung der gesamten Region. Das ist es, was Erdoğan will. Aber im Moment sieht es so aus, als ob er ein schwaches Blatt in der Hand hat. Die Angelegenheiten in Syrien haben sich nicht nach seinen Wünschen entwickelt. Sogar in der Türkei und in seiner eigenen Partei verläuft nicht alles nach seinem Willen. Er ist geschwächt. Und die Russen signalisieren jetzt, dass sie ihm den Weg nur bis zu einem bestimmten Punkt freimachen. Russland sagt zu Erdoğan: Wir haben im gegenseitigen Interesse bestimmte Zugeständnisse gemacht, aber eine vollständige Besatzung der Region lassen wir nicht zu. Inzwischen steht sogar ein Abzug der Türkei aus Syrien auf der Agenda.
Die Befreiung von Efrîn
Efrîn liegt in der Nachbarschaft von Idlib. Auch die Befreiung von Efrîn kommt in einer solchen Situation auf die Tagesordnung. Gibt es von Ihrer Seite aus Initiativen zu diesem Thema? Oder fragen wir so: Ist dieses Thema bei den Gesprächen mit Russland zur Sprache gekommen?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Efrîn, Girê Spî, Serêkaniyê und sogar Dscharablus, Azaz und al-Bab besetzte Gebiete sind, die befreit werden müssen. Die Befreiung von Efrîn ist für uns auf diplomatischer, politischer und militärischer Ebene ein Schwerpunktthema. Es ist keine Frage, die hinausgezögert, ignoriert oder vergessen werden könnte. Bestimmte Entwicklungen und Kräftegleichgewichte haben die Befreiung jedoch bisher verhindert. Durch die Idlib-Operation, die Schwierigkeiten des Erdoğan-Regimes und weitere Faktoren entstehen neue Bedingungen, die Hoffnung versprechen. Die Offensive in Idlib ist noch nicht vorbei. Danach müssen sowohl das Regime als auch Russland eine Beendigung der türkischen Besatzung in den anderen Gebieten verlangen. Wir kämpfen ohnehin dafür. Erdoğan will im schlimmsten Fall einen Teil von Idlib behalten und versucht damit, eine Schwächung seiner Position in Efrîn und den anderen besetzten Gebieten zu verhindern. Um den Schutz der als Oppositionelle bezeichneten Gruppen geht es ihm jedenfalls nicht. Meiner Meinung nach wird sich Erdoğan nicht so einfach halten können. Und wir müssen diese Entwicklung richtig deuten und schnell eine starke Bewegung gegen die Besatzung in Gang bringen.
Gespräche mit der syrischen Regierung
Nach der Besatzung von Girê Spî und Serêkaniyê hat sich in der gesamten Region eine neue Situation ergeben. Sie haben nach der Besatzung viele diplomatische Gespräche geführt. Eine Delegation aus Nord- und Ostsyrien führt Gespräche in Damaskus. Auf welcher Ebene finden die unter russischer Vermittlung laufenden Gespräche mit der syrischen Regierung statt und welche Ergebnisse haben sie bisher erbracht?
Der türkische Staat ist erstmalig in seiner Geschichte in eine derartige Bedrängnis geraten. Er führt beispielsweise seit 1984 in Nordkurdistan Krieg gegen die Befreiungsbewegung, aber dabei hat er die politische, militärische und finanzielle Unterstützung der gesamten NATO. Die Invasion in Nordostsyrien ist jedoch in weiten Kreisen auf Ablehnung gestoßen. Sie wurde vor allem von Europa und den arabischen Ländern verurteilt.
Wir fordern seit Beginn des Krieges in Syrien eine Lösung unter Beteiligung aller involvierten Seiten. Wenn das Regime heute über russische Vermittlung sagt, dass es Gesprächen über eine politische Lösung zustimmt, öffnet sich ein neuer Weg.
Hat das syrische Regime denn gesagt, dass es zu einem Dialog bereit ist?
Das Regime hat positive Zeichen gegeben. Das geht aus den Angaben hervor, die die russischen Verantwortlichen uns gegenüber gemacht haben. Es ist ein Zeichen, das jedoch nicht überbewertet werden sollte. Es ist nicht so, dass alles in die Wege geleitet wurde, Bündnisse geschlossen wurden und eine Lösung entsteht. Es ist jedoch ein positiver Schritt hinsichtlich der Akzeptanz eines Dialogs und von Verhandlungen.
Wenn ich das richtig verstehe, ist also noch kein praktischer Schritt gesetzt worden?
Wir können nicht sagen, dass ein praktischer Schritt stattgefunden hat. Aber man kann sagen, dass sich die Bemühungen für eine politische Lösung entwickeln. Warum? Weil wir ein Projekt haben. Wir sind für eine Lösung der kurdischen Frage in Syrien. Ohne eine solche Lösung kann sich Syrien nicht demokratisieren. Beides hängt voneinander ab. Wir haben immer gesagt, dass wir ein Teil Syriens sind. Deshalb können wir nicht sagen, dass wir mit einer Seite sprechen und mit anderen nicht.
Nicht nur wir, auch das Regime hat diesen Bedarf. Das erfordern die politische, militärische und wirtschaftliche Lage im Land und die Krisen in den Nachbarländern wie Irak, Libanon, Palästina und Türkei. Der seit 2011 stattfindende Krieg im Land zwingt das Regime, nach Auswegen und möglichen Bündnispartnern zu suchen. Bisher können wir nicht sagen, dass zu bestimmten Punkten ein Bündnis geschlossen wurde, aber die Bemühungen um die Entstehung eines Dialogs dauern an. Es besteht Hoffnung, dass sich ein Dialog entwickelt.
Sie haben von gewissen positiven Entwicklungen gesprochen, worum geht es dabei?
Wir betrachten es als positiv, wenn es zu einem Dialog kommt. Das sagen wir seit Beginn des Krieges in Syrien. Nirgendwo auf der Welt ist eine militärische Lösung jemals die Endlösung gewesen. Es braucht eine politische Lösung. Wir wollten zum Beispiel an der Erstellung einer neuer Verfassung beteiligt werden und auch an den von den UN angeführten Gesprächen in Genf teilnehmen. Wie man jetzt sieht, sind diese Gespräche schon wieder vorbei oder haben jedenfalls wie früher keine Bedeutung mehr. Als diese Gesprächsrunden eröffnet wurden, waren sechzig Prozent des Landes in der Hand der sogenannten Oppositionellen. Aber jetzt sind sie nur noch Idlib. Die anderen besetzten Gebiete sind in der Hand des türkischen Staates. Es gibt also gar keine gegnerischen Parteien mehr.
Sollte es bei Ihren Gesprächen mit dem syrischen Regime zu einer politischen und verfassungsrechtlichen Einigung kommen, wäre es dann vorstellbar, mit der Delegation des Regimes zusammen am Genfer Verhandlungstisch zu sitzen?
Uns geht es weniger darum, in Genf dabei zu sein, sondern vielmehr um die Entstehung einer Lösung in Syrien. Wenn wir uns mit Damaskus einigen und Damaskus die Autonomieverwaltung anerkennt, sind Angelegenheiten wie Genf nicht mehr so wichtig. Im Moment spricht sowieso niemand mehr über Genf. Ob es dazu kommt oder nicht, ist ungewiss. Aktuell steht eine neue Verfassung auf der Agenda. An diesem Prozess müssen wir unbedingt beteiligt werden. Wir müssen unsere Meinung einbringen können. Es kann ja nicht sein, dass die Leitung eines großen Landesteils bei der Verfassung dieses Landes nichts zu sagen hat. Es geht auch nicht, dass die Verfassung geschrieben wird und wir später zustimmen. Jeder Text, der ohne die Autonomieverwaltung geschrieben wird, ist zum Scheitern verurteilt.
Sie messen verfassungsrechtlichen Garantien also großen Wert bei?
Es muss ein Rechtssystem festgelegt werden, damit nicht morgen oder übermorgen ein neuer Krieg ausbricht. Deshalb sagen wir, dass ein Bündnis besser ist als die Aussicht, dass wir und das Regime demnächst Krieg führen. Darüber hinaus kann der politische Erfolg der Autonomieverwaltung auch für die anderen Regionen Syriens ein Modell bieten, mit dem die Einheit und Gesamtheit des Landes gefestigt wird.
ENKS muss sich positionieren
Als Ergebnis eines inneren Dialogs hat der ENKS [Kurdischer Nationalrat in Syrien / Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê] Büros in Nordsyrien eröffnet. Wie bewerten Sie das?
Für eine innere Einheit ist es wichtig, dass die Kräfte in Kurdistan zusammenkommen. Ich denke jedoch, dass eine Fokussierung auf einige politische Parteien nicht richtig ist. Es gibt nicht nur den ENKS in Rojava. Es gibt viele kurdische Parteien und alle tragen die Verantwortung dafür, dass in dieser Zeit eine Einheit entsteht. Eine kurdische Einheit beinhaltet die Forderung der Kurden nach Freiheit. Das erfordert eine Positionierung gegen Besatzung, Annexion und demografische Veränderung. Der ENKS ist immer noch in den Strukturen der sogenannten oppositionellen bewaffneten Gruppen vertreten. Er hat sich immer noch nicht zu Efrîn, Girê Spî und Serekaniyê positioniert. Eine Positionierung wird beharrlich verweigert. Trotz alledem hat die Autonomieverwaltung einen sehr flexiblen Umgang mit dem ENKS an den Tag gelegt. Der ENKS sollte nicht nur Büros eröffnen, sondern sich gegen Besatzung und Annexion positionieren. Es gibt also auch etwas für den ENKS zu tun, aber er geht damit nicht gut um. Er verhält sich, als ob die Büroeröffnungen ein Dienst an der Bevölkerung wären. Die Bevölkerung hat jedoch ganz andere Probleme. Ich zum Beispiel frage als Bürger nach, wie sich diese Organisation, die sich als oppositionell versteht und politisch arbeiten möchte, zu Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê verhält.
Gerichtsverfahren gegen IS-Anhänger in Planung
In Syrien und im Irak ist ersichtlich, dass der IS an einer Wiederbelebung arbeiten. Es finden Bewegungen statt und in den Gefängnissen und Camps in Nordostsyrien gibt es eine große Anzahl gefangener IS-Anhänger. Was soll mit ihnen geschehen? Werden sie vor Gericht gestellt oder ausgeliefert?
Die Demokratischen Kräfte Syriens und die Autonomieverwaltung haben der Welt mit dem Sieg über den IS einen großen Dienst erwiesen. Durch den Einsatz der Bevölkerung und Zehntausender Gefallener und Kriegsversehrter ist dem IS ein großer Schlag versetzt worden. Jetzt ist jedoch eine Vernachlässigung erkennbar. Wir sehen, dass der IS dadurch mit einer Reorganisierung begonnen hat. Wir haben an alle Länder appelliert, ihre Staatsangehörigen zurückzuholen. Sollte das nicht möglich sein, haben wir einen internationalen Gerichtshof gefordert. Wie es aussieht, will das niemand übernehmen.
Die Autonomieverwaltung hält fest, dass die IS-Anhänger vor Gericht gestellt werden müssen. Wenn es keinen internationalen Gerichtshof dafür gibt, müssen sich die Gerichte der Autonomieverwaltung darum kümmern. Der Beginn dieser Arbeit ist für die kommenden Tage geplant.