Aussagen eines syrischen MIT-Agenten in Ain Issa

Der festgenommene Anführer einer in Nordsyrien agierenden MIT-Zelle berichtet über Infrastruktur, Ausbildung und Angriffsziele des vom türkischen Geheimdienst kontrollierten Zellennetzwerks im Autonomiegebiet.

Den Sicherheitskräften der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien gelang in den letzten Tagen des Jahres 2020 ein schwerer Schlag gegen die Netzwerke des türkischen Geheimdienstes MIT im Autonomiegebiet. Ein Netzwerk von 28 Personen konnte in der Region Ain Issa ausgehoben werden. Unter anderem der Anführer der Gruppe machte umfassende Aussagen, die er auch gegenüber der Nachrichtenagentur ANHA wiederholte.

Unter dem Codenamen „Kleiner General“ leitete Muhammad Jasim Al-Hassoun, alias Abu Assaf, das aus 28 Mitgliedern bestehende Geheimdienstnetzwerk. Die Geschichte des „Kleinen Generals“ begann demnach im Jahr 2017, als er in die Türkei ging, um sich dort bei seiner Familie niederzulassen. Dort traf er  Ali Muhammad al-Hamoud, alias „Abu Haider al-Nuaimi“, der für eine bewaffnete Proxygruppe des türkischen Staats arbeitet.

Abu Haider al-Nuaimi habe ihn für den MIT angeworben, um für die von der Türkei kontrollierte FSA zu arbeiten, behauptet Abu Assaf. Diesen Vorschlag habe er angenommen. Einerseits wegen des Geldes und andererseits aus „Hass auf die Kurden in Nordsyrien“ habe er dem Angebot zugestimmt.

Wie geplant sei Abu Assaf zunächst ins Gefängnis gesteckt worden, weil er in Nordsyrien bei den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) gewesen wäre. So sollte seine Tarngeschichte Hand und Fuß erhalten. Dem Plan entsprechend wurde er nach 22 Tagen Haft im Gefängnis von Hilvan in der nordkurdischen Provinz Riha (tr. Urfa) entlassen und anschließend in einem Lager des MIT ausgebildet.

Das Lager habe sich im Hafen der türkischen Stadt Mersin in der Nähe eines Fischmarktes und eines Parks befunden, wo sich laut Abu Assaf Dutzende Menschen aus Syrien in großen Hallen aufhielten. Es handelte sich demnach um junge Männer und Frauen aus den verschiedenen Regionen Syriens, vor allem aus den Städten des Nordens.

IS-Dschihadisten und Minderjährige im Lager

Abu Assaf äußert gesehen zu haben, dass Gruppen von Jugendlichen in dem Lager ebenfalls vom MIT ausgebildet wurden. Es habe sich um Kriegswaisen und Flüchtlingskinder gehandelt. Unter den Minderjährigen seien Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren gewesen, die ebenfalls für Aufgaben für den MIT trainiert worden seien.

In den Trainingseinheiten, an denen er teilnahm, hätten sich auch ehemalige IS-Dschihadisten befunden. Viele von ihnen seien schon mit dem IS in Girê Spî und Siluk gewesen und hätten weder ihre Vorgehensweise noch die Uniform geändert. Als Abu Assaf den Begriff „Daesh“ für den IS im Kurs benutzt habe, sei er von seinen Ausbildern aufgefordert worden, diesen Namen zu vergessen und stattdessen vom „Islamischen Staat“ zu reden. Ihm sei von den türkischen Ausbildern gesagt worden, es handele sich bei den IS-Dschihadisten um „Freunde“ und „Brüder“.

Dreimonatige Ausbildung beim MIT

Die Ausbildung zum Agenten habe 86 Tage gedauert und aus drei Stufen bestanden, fährt Abu Assaf fort. „General Ali“ sei der türkische Geheimdienstoffizier gewesen, der die Rekrutierung von Syrern überwachte. Assaf beschreibt ihn als „Araber aus Urfa“, dessen Mutter Syrerin sei. Mit ihm wären eine Reihe von syrischen Söldnerführern wie Ibrahim Ahmed Al-Mustafa alias „Abu Shuja“, Mahmoud Al-Aqaba und Ahmed Al-Turki als Ausbilder im Lager gewesen. Ali habe Abu Assaf den Namen „der kleine General“ gegeben und ihm versprochen, dass er größere Aufgaben erhalten würde, sobald er seine nachrichtendienstlichen Engagement ausweitet.

Im Lager hätten die Auszubildenen auch Kurse in Kurdisch und Türkisch erhalten, äußert Abu Assaf. Dennoch falle es ihm noch immer schwer, beide Sprachen zu benutzen. Auf die Frage, wie viele Personen sich an dem „Kurs“ beteiligten, anwortet er: In der ersten Phase haben sich 15 Personen im Kurs befunden, in der nächsten 20 und in der dritten 40 Personen.“

Der erste Teil der Ausbildung beim MIT umfasste laut Assaf, Positionen festzustellen und richtige Fotografien anzufertigen. Außerdem hätten Sicherheitsvorkehrungen bei der Arbeit eine wichtige Rolle gespielt. In der zweiten Phase sei ihnen beigebracht worden, wie sie allein auf sich gestellt arbeiten könnten, zum Abschluss hin sollen alle Teilnehmenden ihren persönlichen Aufgaben entsprechend geschult worden sein. Außerdem seien Taktiken besprochen worden, auf welche Weise man sich geheimdienstlich kurdischen Kommandanten annähern könnte und wie ein unauffälliges Verhalten im Umgang mit „Kurden“ aussehen sollte.

Antikurdische Provokationen

Der türkische Staat sei bei der Ausbildung als Verteidiger der Muslime und die Kurden als Feinde der Araber und des Islam dargestellt worden. Abu Assaf berichtet, wie der IS immer wieder von den Ausbildern gelobt und als beispielhaft in Szene gesetzt wurde.

Nach der Ausbildung ins Feld

Nach Abschluss seiner Ausbildung habe „der kleine General“ 1000 türkische und 50.000 syrische Lira erhalten und sei nach einem viermonatigen Aufenthalt in der Türkei nach Syrien zurückgekehrt. Als erstes sei er 2018 nach Girê Spî geschickt worden. Dort habe er Informationen für den MIT über militärische Stellungen und wichtige Persönlichkeiten in der Region gesammelt. Offiziell habe man ihn als Kämpfer der „FSA“ eingeschrieben, für einen Monatslohn von 600 Lira. Der Sold ging an seine in Riha lebende Familie. Über eine türkische SIM-Karte habe Abu Assaf in ständigem Kontakt mit Saad Shwish Al-Bathawi, Abu Haider Al-Nuaimi und General Ali gestanden, die ihm von Zeit zu Zeit Anweisungen gaben.

Verlegung nach Ain Issa

Nach der Besetzung von Girê Spî sei Abu Assaf nach Ain Issa versetzt worden, wo er seine Tätigkeit als Agent fortgesetzt habe. Zunächst gab er eigenen Aussagen nach vor allem Aufklärungsdaten an den türkischen Geheimdienst weiter. Mit der Ausweitung der Besatzung hätten sich für ihn ganz neue Möglichkeiten eröffnet, seine MIT-Kontakte zu treffen. So berichtet er von Gesprächen im Hause seines Cousins Abdel Nasser al-Nuaimi im Dorf Khirbet al-Raz: „Abu Haider und General Ali wollten, dass ich ihnen meine Arbeit zukommen lasse und bedrohten mich. Sie sagten: ‚Solltest du uns verraten, werden wir dich erschießen.‘“ Das mehrtägige Treffen mit seinen Kommandanten habe sich um die Aufgaben im Rahmen der Invasion gedreht. Assaf sei aufgefordert worden, Aufnahmen der Kontrollpunkte bei Ain Issa anzufertigen. Dabei ging es sowohl um Stellungen der QSD als auch des Regimes. Auch Bilder aller Verwaltungsgebäude und militärischen Einrichtungen sollten aufgenommen werden.

Leitung eines Geheimdienstnetzwerkes

Mit fortschreitender Arbeit habe Abu Assaf größere Aufgaben erhalten. Inzwischen durfte er an Leitungssitzungen der Milizen und der Geheimdienstgruppen teilnehmen und ein Geheimdienstnetzwerk aufbauen. Salah Hassan Abdullah, Rashid Hassan Sharif und Hassan Muhammad Abbou seien die ersten Rekruten des Netzwerkes gewesen. Ihr Auftrag lautete, militärische Stellungen zu lokalisieren, sie zu fotografieren und an den türkischen Geheimdienst weiterzuleiten. In der nächsten Zeit sei das Netzwerk rapide auf 28 Personen erweitert worden.

Brandstiftungen und psychologische Kriegsführung

Wie auch die Sicherheitskräfte der Autonomieregion bestätigen, beschränkte sich das Agentennetzwerk Assafs nicht nur auf die Sammlung von Informationen und Anfertigung von Aufnahmen. Es versuchte auch, den Weg für das türkische Militär zu ebnen. „Ich sprach mit den QSD-Kämpfern, um ihre Kräfte zu schwächen und die Auflösung der Einheiten an der vordersten Front herbeizuführen”, berichtet er. „So konnte ich ein paar junge Leute die ich kannte davon überzeugen, aus ihren Stellungen zu fliehen.“

Im vergangenen Sommer wurden in Nord- und Ostsyrien etliche Feldbrandstiftungen mithilfe von Artillerie verübt. Auch das nun ausgehobene Netzwerk beteiligte sich daran. „Sie wollten von mir, dass ich aus Gebieten in der Nähe der Front das Feuer eröffne. Sobald ich das tat, begannen die Milizen in der Nähe ebenfalls das Feuer zu eröffnen und halfen mir. Es war dann nicht mehr klar, woher der Beschuss kam“, berichtet Abu Assaf.

Bombentransport aus besetzten Gebieten

In Ain Issa sei Assaf vom MIT beauftragt worden, Bombenanschläge und Attentate zu verüben. Währenddessen hätten sich die übrigen Mitglieder des Netzwerkes der Datensammlung für den türkischen Geheimdienst gewidmet. Abu Assafs eigenen Äußerungen zufolge habe er sich an drei Bombenanschlägen in Ain Issa beteiligt. Einer der Anschläge richtete sich demnach gegen Sicherheitskräfte am Stadteingang. Die Bomben habe er aus den besetzten Gebieten in die Region gebracht. Dazu habe er zwei Wege benutzt: Ein Weg führte am Şergirak-Depot vorbei, ein anderer über das Dorf Sekiro im Osten von Ain Issa. Die Bomben seien fertig mit Fernzündern ausgerüstet gewesen. Manchmal, wenn er losfuhr, um Sprengsätze abzuholen, habe er General Ali, Saad Shwish Al-Bathawi und Turki Al-Assaf getroffen, um neue Anweisungen zu erhalten. Die Grenze zu den besetzten Gebieten habe Abu Assaf meist in der Nacht passiert. Für jeden Anschlag hätten die beteiligten Gruppenmitglieder zwischen 200 und 400 Dollar erhalten.

Geheimdienstnetzwerke als Mittel zu Destabilisierung der Region

Der Fall Abu Assaf ist typisch für das Vorgehen des MIT in der Region. Durch Attentate und psychologische Kriegsführung versuchen die Zellen, die Region zu destabilisieren und für Zwietracht zu sorgen. So soll die Selbstverwaltung geschwächt und ein türkischer Einmarsch vorbereitet werden.