Überlebende fordert juristische Aufarbeitung der IS-Verbrechen

Naime Fetah Aqil ist Augenzeugin und Überlebende der vom IS in Nordsyrien begangenen Gräueltaten, ihr Sohn ist in Kobanê gefallen. Sie fordert eine gerechte Strafe für die Täter, die Verbrechen sollen juristisch aufgearbeitet werden.

Der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) hat am 15. September 2014 Kobanê angegriffen. Nach der Einnahme von 350 umliegenden Dörfern rückten die vom türkischen Staat unterstützten Islamisten in die Stadt vor. Die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ leisteten monatelang den größten Widerstand der Geschichte und konnten am 26. Januar 2015 die Befreiung von Kobanê verkünden. Diese Niederlage war für den IS der Beginn des Untergangs. Doch auch danach verübte die islamistische Terrormiliz brutale Angriffe in der Region. Das Massaker am 25. Juni 2015 in Kobanê war einer der blutigsten Anschläge auf die Zivilbevölkerung in Syrien. Zehn Tage, nachdem die YPG und YPJ Girê Spî (Tall Abyad) befreit hatten und auf Raqqa, die selbsternannte „Hauptstadt des Kalifats“ vorrückten, drangen IS-Dschihadisten getarnt in YPG-Uniformen von zwei Seiten in Kobanê ein. Etwa sechzig Islamisten kamen mit schweren Geschützen aus der Türkei, der geschlossene Grenzübergang wurde extra für sie geöffnet. Eine weitere Gruppe rückte aus Dscharablus vor. Der Angriff begann im Morgengrauen mit der Explosion einer Lastwagenbombe. Anschließend gingen Islamisten in Kobanê und im Dorf Berxbotan von Haus für Haus und töteten Alte, Männer, Frauen, Kinder und Babys. Zurück blieben 252 tote Zivilist:innen und zwei Dutzend gefallene Kämpfer:innen.

IS-Verbrechen sollen juristisch aufgearbeitet werden

Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) hat am 10. Juni gerichtliche Verfahren gegen internierte IS-Mitglieder angekündigt. Vorangegangen waren jahrelange vergebliche Bemühungen für einen internationalen Gerichtshof. In der Region sind über zehntausend IS-Mitglieder aus sechzig Herkunftsländern interniert. Wann die Prozesse beginnen werden, steht noch nicht fest. Die Verfahren sind mit großem juristischen, sicherheitstechnischen und materiellen Aufwand verbunden. Die AANES wird damit allein gelassen.

Eine Augenzeugin berichtet: „Der Schmerz der Menschen bereitete ihnen Genuss“

Naime Fetah Aqil ist die Mutter von Metin Kobanê, der bei dem Massaker vor acht Jahren ums Leben kam. Sie unterstützt die von der AANES angekündigten Prozesse gegen die Mörder ihres Sohnes und will daran teilnehmen. „Als Mutter eines Gefallenen will ich dabei sein, wenn die Islamisten vor Gericht gestellt werden. Ich will Rechenschaft einfordern“, sagt Naime. Für sie ist es unverständlich, dass die Herkunftsstaaten das von der AANES geforderte internationale Tribunal nicht unterstützen. Von dem Massaker am 25. Juni 2015 berichtet sie:

„Der IS hat viele Massaker in Kobanê begangen, aber der 25. Juni war ein besonders schwarzer Tag. Ich denke voller Trauer und mit großem Schmerz daran zurück. Sie metzelten alle nieder, denen sie begegneten, Kinder, Frauen, Alte. Sie trugen YPG-Uniformen und klopften an die Haustüren, um brutal zu morden. Manche Türen wurden eingetreten, Frauen wurden angegriffen, sogar Babys wurden getötet. Die Alten stellten sich schützend vor die Jungen, aber es wurden alle massakriert. Ich habe das brutale Vorgehen miterlebt. Der Schmerz der Menschen bereitete ihnen Genuss. Sie töteten erst die Kinder, um die Mütter leiden zu sehen. Manche Menschen lagen noch im Bett und verloren ihr Leben, ohne zu begreifen, was vor sich ging. Sie köpften die Menschen und zerfetzten ihre Körper. Sie erprobten alle Methoden der Folter an der unschuldigen Bevölkerung.“

Naime Fetah Aqil hat das IS-Massaker überlebt und ihren Sohn verloren

Wenn es um das kurdische Volk geht, bleibt die Welt stummt“

Naime fordert, dass nicht nur IS-Mitglieder, sondern auch ihre Unterstützer angeklagt werden. Sie sagt: „Wenn ein solches Massaker in einem anderen Land stattgefunden hätte, wäre ein Inferno ausgebrochen. Es wäre interveniert worden und die Täter hätten eine gerechte Strafe erhalten. Wenn es jedoch um das kurdische Volk geht, bleibt die Welt stumm. Diejenigen, die damals geschwiegen haben und auch heute noch schweigen, stellen ihre Partnerschaft mit den Tätern unter Beweis.“

Internationale Institutionen müssen handeln“

Zu den Verbrechen der über zehntausend internierten Islamisten und den angekündigten Prozessen erklärt Naime: „Es gibt viele Waisenkinder, deren Eltern vom IS getötet wurden. Mit den ermordeten alten Menschen ist ein großer Teil unseres historischen Gedächtnis verschwunden. Blutjunge Menschen wurden geköpft, ihre Augen wurden ausgestochen, ihre Körper in Stücke gerissen. Es waren grausame und unendlich brutale Massaker. Dieses Grauen kann nicht vergessen werden. Die Entscheidung der Autonomieverwaltung ist richtig und wir unterstützen sie als Familie eines Gefallenen. Internationale Institutionen und Organisationen müssen handeln, damit die Täter für ihre Verbrechen angeklagt und verurteilt werden. Die Menschen, die Zeugen der Massaker waren, müssen über den IS richten. Der IS ist für Massenmorde, Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Folter, Plünderung und Diebstahl bekannt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Der IS hat getötet, vergewaltigt, geplündert und Menschen bei lebendigem Leib begraben. Das kurdische Volk hat trotz dieser Grausamkeiten an seiner Menschlichkeit festgehalten. Die Autonomieverwaltung von Nord- und Osten ist die Vertretung der Völker der Region und hält die IS-Mitglieder seit vielen Jahren in Internierungslagern und Gefängnissen fest. Sie müssen endlich angeklagt werden und sich vor den Familien der Gefallenen verantworten. Ihre Verbrechen müssen aufgearbeitet und ihre Unterstützer ein weiteres Mal benannt werden.“