Die am Vortag in Istanbul festgenommenen Journalisten Enes Sezgin und Taylan Öztaş befinden sich nach einer richterlichen Vernehmung wieder auf freiem Fuß. Auch vier Aktivisten wurden wieder freigelassen. In allen Fällen ordnete ein Gericht in der Bosporusmetropole polizeiliche Meldeauflagen sowie ein Ausreiseverbot an. Die Betroffenen müssen nun regelmäßig bei den türkischen Behörden vorstellig werden und dürfen die Stadt nicht verlassen. Vorgeworfen wird ihnen Verstoß gegen das türkische Versammlungsgesetz und gegen das Vermummungsverbot.
Was war passiert?
Enes Sezgin, Korrespondent der kurdischen Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA), und Taylan Öztaş von der Zeitung Özgür Gelecek, hatten am Samstag eine Protestkundgebung im zentralen Istanbuler Stadtteil Beyoğlu gegen den rassistischen Mord an der kurdischen Familie Dedeoğulları in Konya begleitet. Nach der Veranstaltung sind Aktivisten auf dem Weg nach Kasımpaşa von einer Gruppe Rassisten angegriffen worden. Mehrere anwesende Journalist:innen wurden ebenfalls attackiert, darunter Rojin Altay von MA, Hayri Tunç von der Zeitung Fersude sowie die Sendika.Org-Reporterinnen Derya Saadet und Ceylan Bulut.
Die Polizei ließ die rassistische Gruppe gewähren und machte stattdessen Jagd auf die Aktivisten und Journalisten. Sezgin und Öztaş sowie vier an der Kundgebung beteiligte Demonstranten wurden festgenommen und ins Erste-Hilfe-Krankenhaus am Taksim gebracht. Dort wurden sie mit auf dem Rücken gefesselten Händen von Polizisten misshandelt. Die „Folter”, wie die beiden die Tortur vor Gericht bezeichneten, habe jedoch bereits im Einsatzwagen der Sicherheitskräfte begonnen.
Während Kolleg:innen von Sezgin und Öztaş vor dem Krankenhaus Informationen über ihren Gesundheitszustand einholen wollten, wurden die sechs Festgenommenen über die Hintertür zunächst zur Polizeistation in Kasımpaşa gebracht. Später in der Nacht sind sie in die Wache Vatan verschleppt worden, stundenlang war der Aufenthaltsort unklar.
Ermittlungsverfahren gegen Journalist in Semsûr
Die juristische Schikane gegen kritischen Journalismus im Zusammenhang mit dem Mord an der siebenköpfigen Familie Dedeoğulları machte sich auch in der nordkurdischen Provinz Semsûr (tr. Adıyaman) bemerkbar. Dort wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Journalisten Özgür Boğatekin eingeleitet. Der Chefredakteur der Lokalzeitung Gerger Fırat mit Sitz im Landkreis Aldûş (Gerger) wird der Volksverhetzung beschuldigt. Hintergrund ist Kritik am Umgang der türkischen Sicherheitsbehörden mit den Tätern im Mord an den Dedeoğullarıs.
Özgür Boğatekin gerät regelmäßig ins Visier türkischer Verfolgungsbehörden | Archivbild © MLSA
Die sieben Mitglieder der ursprünglich aus Qers (Kars) in Nordkurdistan stammende Familie waren am Freitag in ihrem Haus in Konya-Meram von türkischen Nationalisten ermordet worden. Nach den Morden wurde das Haus angezündet. Die Familie war bereits am 12. Mai von einem aus rund sechzig Personen bestehenden Lynchmob in ihrem Haus überfallen und schwer verletzt worden. Nur sieben der Angreifer waren vorübergehend in Untersuchungshaft genommen und aus „Mangel an Beweisen“ wieder freigelassen und unter Polizeischutz gestellt worden. Die Opfer wurden nicht beschützt. Boğatekin bezeichnet den Mord deshalb als „angekündigtes Massaker“. Nicht der Opferschutz nehme innerhalb des Sicherheitsapparats einen hohen Stellenwert ein, sondern der Täterschutz, kritisiert der Journalist. Die Vorwürfe gegen ihn weist Boğatekin als „haltlos“ zurück.