Am 13. August 2019 stoppten Aktivistinnen und Aktivisten der Klimagerechtigkeitsbewegung einen Güterzug vor dem VW-Werk in Wolfsburg. Mit mehreren Ankett- und Kletteraktionen brachten sie den Autozug zum Anhalten und verzögerten die Auslieferung von rund 200 Neuwagen an Vertragshändler. Die Blockade der „Aktion Autofrei“ richte sich gegen die Automobilindustrie, die maßgeblich verantwortlich für die Klimakrise sei, erklärten die Aktivist:innen.
Pay Numrich begleitete die Aktion als Journalist. Doch aufgrund fragwürdiger Polizeiermittlungen steht er kommende Woche als Beteiligter vor Gericht. Die Blockade war damals von Einsatzkräften der Polizei gegen Mitternacht aufgelöst worden. Einige Aktivist:innen verweigerten die Angabe ihrer Personalien. Die Polizei überprüfte daraufhin die Anruflisten der beschlagnahmten Mobiltelefone, um die Identitäten zu ermitteln. Durch eine Anschlussinhaberabfrage fanden die Beamten heraus, dass Numrich Kontakt mit den Aktivist:innen hatte. Um aufzuklären, ob der Journalist an der Blockade beteiligt gewesen sein könnte, wurden Standbilder aus den Polizeivideos und der ED-Behandlungen mit dem Foto der Meldebehörde verglichen. Daraus erfolgte die vermeintliche Identifizierung. Der Vorwurf gegen Numrich lautet: Beihilfe zur Nötigung.
„Entlastende Indizien wurden krampfhaft umgedeutet“
Per Internetrecherche will die Polizei über Pay Numrich herausgefunden haben, dass er schon öfter über linke Aktionen berichtete. Die Frage, ob er journalistisch vor Ort war und nur deswegen Kontakt zu den Aktivist:innen hatte, stellte sie sich der Aktenlage nach zu keinem Zeitpunkt. „Das Ergebnis der Ermittlungen stand schon von Beginn an fest. Entlastende Indizien wurden krampfhaft umgedeutet, um meine vermeintliche Schuld zu beweisen“, kritisiert Numrich die Ermittlungen der Polizei. „Es ist schon bezeichnend, dass weder der Staatsanwaltschaft noch dem Gericht die groben Fehler aufgefallen sind und ich nun vor Gericht stehe.“
Wozu es führen könne, wenn die Polizei voreingenommen und einseitig ermittelt, hätten die Ermittlungen im NSU-Komplex gezeigt, sagt Numrich. Statt gegen die mordenden Nazis eindringlich zu ermitteln, wurden die Opferfamilien über Jahre hinweg von der Polizei zu Tätern umgedeutet. „Im Vergleich dazu ist ein Strafbefehl gegen mich als Journalisten zwar harmlos, zeigt aber doch das strukturelle Problem voreingenommener Ermittlungen.“
Kein Einzelfall
Dass dieses Vorgehen in den Ermittlungen zur VW-Blockade keineswegs ein Einzelfall ist, zeigt der Vorfall bei der Journalistin Hanna Poddig. Die Hamburgerin, die ebenfalls über die VW-Blockade berichtet hatte, war im Nachgang von der Polizei als eine der beteiligten Aktivist:innen identifiziert worden. Und dass, obwohl der Polizei auffiel, dass es offenkundige Unstimmigkeiten bei den Vergleichsbildern gab. Die falsche Identifizierung wurde nur zufällig durch einen Flensburger Staatschutzbeamten bemerkt und das Strafverfahren eingestellt. Rückschlüsse auf andere laufende Verfahren wurden daraus offenbar nicht gezogen.
Das fehlende Eingeständnis von Fehlern bei der Polizei zeigt sich nicht nur in der Ermittlungsarbeit, sondern auch im journalistischen Alltag. So werden Akkreditierungen von als politisch eingestuften Journalist:innen angezweifelt, Platzverweise erteilt, Medienschaffende gezielt auf Demonstrationen angegriffen oder in Gewahrsam genommen. Dies geschah auch zuletzt im Rahmen der Proteste gegen die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) in München. Dieses Verhalten verdeutlicht das defizitäre Verhältnis der Polizei zur Pressefreiheit.
Journalist:innen immer häufiger ihrer Rechte beraubt
Nicht nur in Wolfsburg, sondern auch in zahlreichen anderen Städten sehen sich insbesondere freie Journalist:innen gezwungen, mit juristischen Mitteln um ihr Rechte zu kämpfen. „Aber was hilft eine gerichtliche Bestätigung, die mir im Nachhinein bescheinigt, dass eine polizeiliche Handlung nicht rechtmäßig war, wenn die Erfahrung zeigt, dass die Polizei ungeachtet dessen wieder und wieder so vorgehen wird und keine Konsequenzen zu fürchten hat?“, fragt Pay Numrich. Für ihn sprachen mehrere Gründe gegen die vom Gericht angebotene Einstellung wegen Geringfügigkeit. Einerseits die Annahme, dass ein wegen geringer Schuld eingestelltes Verfahren auf Jahre – wenn nicht sogar Jahrzehnte – in polizeilichen Datenbanken gespeichert wird und potentiell seine journalistische Tätigkeit einschränkt. Andererseits eine prinzipielle Überzeugung: „Gegen solch schlechte Ermittlungsarbeit muss ich mich einfach wehren, alles andere fühlt sich nicht richtig an.“
Der Prozess gegen Pay Numrich findet kommenden Montag, 20. September, um 9 Uhr am Amtsgericht Wolfsburg (Rothenfelder Str. 43) in Saal E statt. Die Verhandlung ist öffentlich.