Zweiter Tag des internationalen Tribunals in Paris

Am zweiten Tag des internationalen Tribunals in Paris wurden schwerpunktmäßig das Massaker von Roboski, Gewalt gegen Frauen, extralegale Hinrichtungen sowie die Morde an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez behandelt.

Gestern hat in Paris unter dem Vorsitz von sieben Richter*innen aus verschiedenen Ländern ein internationales Tribunal begonnen. Am ersten Tag der vom permanenten Volkstribunal initiierten Verhandlung wurden Sachverständige und Zeug*innen zu den Kriegsverbrechen des türkischen Staates und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen das kurdische Volk angehört. Der Schwerpunkt lag dabei auf den Massakern an der Zivilbevölkerung, die von staatlichen Kräften während des Selbstverwaltungs-Widerstandes in Cizîre, Şirnex, Nisebîn und Sûr begangen worden sind.

Der zweite Verhandlungstag begann mit der Untersuchung des Massakers von Roboski, bei dem 34 Jugendliche und junge Männer am 28. Dezember 2011 durch die Bombardierung türkischer Kampfjets ums Leben gekommen sind.

Der belgische Rechtsanwalt Jan Fermon, der im Tribunal als Staatsanwalt fungiert, stellte das Massaker von Roboski als ein Kriegsverbrechen dar, das kein singuläres Ereignis sei, da ähnliche Angriffe auch anderswo durchgeführt worden seien.

Der erste Zeuge war Ferhat Encü, der seinen Bruder und enge Verwandte in Roboski verloren hat. Er sagte aus, dass die Opfer des Massakers unter der Beobachtung unbemannter Luftfahrzeuge getötet worden seien: „Wir hätten nie gedacht, dass F-16-Flugzeuge Bomben abwerfen und ein solches Massaker verüben würden. Nach der Bombardierung blockierten die Soldaten alle Straßen und erlaubten niemandem, ins Dorf zurückzukehren. Das Massaker wurde 500 Meter entfernt von einer türkischen Militärbasis verübt. Es war ein vorsätzliches Massaker. Keine Krankenwagen kamen, Hubschrauber flogen über uns, es war wie im Film", sagte Encü und fügte hinzu: „Wir haben die Grenzen, die zu Beginn der republikanischen Zeit gezogen worden sind nie anerkannt.“

Frederike Geerdink: Der Staat wollte mit dem Roboski-Massaker Rache nehmen

Die niederländische Journalistin Frederike Geerdink, die ein Buch über das Massaker geschrieben hat, wurde als Zeugin für die anschließenden Geschehnisse angehört. Sie war fünf Tage nach dem Massaker in Roboski, um den Vorfall zu untersuchen.

In ihrer Aussage stellte die Journalistin fest, dass die PKK zuvor eine große Aktion durchgeführt hatte. Bei dem Massaker habe es sich um einen Racheakt gehandelt. Die Menschen in der Region betrieben seit Langem Grenzhandel und jeder wisse, dass der Weg an der Grenze von Händlern und nicht von der PKK verwendet werde.

Keskin: Gewalt gegen Frauen ist ein Kriegsverbrechen

Im weiteren Verlauf der Verhandlung ging es um das Thema Gewalt gegen Frauen. Die Menschenrechtsaktivistin und Rechtsanwältin Eren Keskin berichtete von Gewalt gegen Frauen während der Zeit der Ausgangssperren in kurdischen Städten. Sie thematisierte insbesondere den Fall der Guerillakämpferin Ekin Wan, deren nackter Leichnam von staatlichen Kräften öffentlich zur Schau gestellt worden war.

Keskin erwähnte weiterhin Fälle des sexuellen Missbrauchs kurdischer Frauen seit den 1990er Jahren und erklärte: „Jede Art von Gewalt gegen Frauen ist politische Gewalt. Die Zurschaustellung von Ekin Wans nacktem Körper ist eine sexuelle Folter.“ Strafanzeigen in solchen Fällen verliefen in der Regel erfolglos. Aktuell könne ohnehin aufgrund des in der Türkei herrschenden Ausnahmezustands keine Beschwerde gegen Beschäftigte des öffentlichen Diensts eingereicht werden. „Meines Erachtens stellt dies auch ein Problem für die EU dar. Die Türkei ist Teil mehrerer Konventionen, aber implementiert fast keine von ihnen.“

Keskin sagte, die Freiheit der Meinungsäußerung werde in der aktuellen Situation mehr denn je verletzt: „Sie werden bereits der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation beschuldigt, wenn sie nur den Namen von Ekin Wan in den sozialen Medien erwähnen."

Staatsterror

Nach den Themenschwerpunkten Roboski und staatliche Gewalt gegen Frauen wurde die Verhandlung mit der Thematik extralegaler Hinrichtungen und der Bombardierung der Tageszeitung Özgür Gündem fortgesetzt. Die vom türkischen Staat eingesetzten Todesschwadrone waren unter dem Deckmantel des Anti-Terror-Kampfes unter anderem verantwortlich für den Mord an Musa Anter, Bombenanschläge gegen die Partei DEP und die Zeitung Özgür Gündem.

Morde von Paris

Die Nachmittagssitzung des Tribunals behandelt den Dreifachmord an dem PKK-Gründungsmitglied Sakine Cansız, der KNK-Vertreterin Fidan Doğan und der Aktivistin der kurdischen Jugendbewegung Leyla Şaylemez durch den türkischen Geheimdienst MIT am 9. Januar 2013 in Paris. Der einzige offiziell Tatverdächtige Ömer Güney ist unter verdächtigen Umständen in einem Pariser Gefängnis verstorben.