Im Juni feiert der neue Film „Trotz alledem“ von dem Filmemacher Robert Krieg seine Deutschlandpremiere. Der Regisseur zeigt hierin das alltägliche Überleben und den außergewöhnlichen Mut zur Selbstermächtigung in Nord- und Ostsyrien, einer Region, die weltweit kaum Beachtung findet. In Rojava behaupten sich Frauen trotz alledem ‒ sie gründen Dörfer, unterrichten Kinder, bauen Werkstätten auf – und verteidigen nicht nur ihr Leben, sondern auch eine Vision von Freiheit und Gleichberechtigung.
Für Robert Krieg waren die Dreharbeiten zu seinem aktuellen Film nicht der erste Aufenthalt in den Gebieten der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES). Im Interview beantwortet er daher auch Fragen, die die Entwicklungen und Veränderungen vor Ort beschreiben.
Am 12. Juni kommt dein neuer Film „Trotz alledem“ ins Kino. Könntest du den Film kurz vorstellen?
Ursprünglich wollten wir einen Film über Arbeit und Leben der Frauen in zwei Frauen-Agrargenossenschaften drehen. Die türkischen Luftangriffe machten uns einen Strich durch die jahrelange Vorbereitung und wir mussten kurzfristig nach Alternativen suchen. Dabei herausgekommen ist ein Roadmovie quer durch Rojava, bei dem wir ganz unterschiedliche Frauenprojekte und einzelne Frauen vorstellen, die alle eins eint: ihre Selbstermächtigung gegen die Herrschaft des Patriarchats und dessen Gesetze.
Du legst den Schwerpunkt auf den Kampf und die Organisierung von Frauen. Was ist dir in diesem Kontext besonders in Rojava aufgefallen?
Während der Dreharbeiten zu „Experiment Rojava“ habe ich verstanden, welche entscheidende Rolle die Frauen in diesem Projekt des Aufbaus einer egalitären Gesellschaft spielen. Ich habe sie dabei als Rückgrat erlebt, ‒ und das über alle gesellschaftlichen Schichten und Segmente hinweg, unabhängig vom Bildungsgrad, vom Alter oder der familiären Position innerhalb einer traditionell ganz überwiegend tribalen Struktur.

Keca zeigt ihren Garten und erzählt davon, dass sie einen Brunnen gebaut hat und vor hat, einen zweiten zu bauen. Obwohl sie dafür viel Ablehnung erhält, teilt sie auf Social Media Teile ihres Lebens, um der Welt zu zeigen, wie sie leben.
In deinem Film dreht sich viel auch um Ökonomie. Wie siehst du die Organisierung der Ökonomie in Rojava? Einerseits existiert ja eine Form von Privatwirtschaft, andererseits ist immer wieder von Demokratisierung der Ökonomie und Kooperativen die Rede. Wie siehst du diese Entwicklungen?
Ganz sicher nicht bestimmen genossenschaftliche Projekte und kooperative Arbeits- und Lebensweisen die Ökonomie Rojavas. Um so eindrücklicher sind die Projekte, die wir in Raqqa, in Qamişlo und in Jinwar besuchen konnten. Die durch den Krieg entstandene prekäre Situation ist ein wichtiger Antrieb, nach kreativen Lösungen des ökonomischen Überlebens zu suchen. Gemeinschaftliche Lösungen sind vorteilhaft, da sie von einer gemeinsamen Ausgangslage ausgehen, wie die Agrargenossenschaft in Raqqa zeigt.
Darüber hinaus ist für die Frauen der eigene Verdienst eine entscheidende Voraussetzung für persönliche Freiheit und die Überwindung der patriarchal gesetzten Normen. Die Zuteilung von öffentlichem Grund und Boden durch die autonome Selbstverwaltung, die sich nicht an marktwirtschaftlichen Prämissen orientiert beziehungsweise von privatwirtschaftlichen Interessen abhängt, wirkt Wunder, wie die Frauen in Raqqa zeigen. Auf dieser Basis könnte ich mir eine realistische Zukunft für die dezentrale Verbreitung der genossenschaftlichen Idee vorstellen.
Was sind deinen Erfahrungen mit den Rätestrukturen in Rojava, was können wir von ihnen lernen, was sind die Probleme?
Der tägliche Überlebenskampf unter Kriegsbedingungen hat sicherlich zu einer Ermüdung geführt. Zumindest im Vergleich zu meinen Erfahrungen 2018. Abgesehen von den Frauen in den beiden Agrargenossenschaften in Raqqa und Jinwar mit räteähnlichen Strukturen, war keine der Frauen, mit denen wir gedreht haben, in der politischen Rätestruktur aktiv.
Das heißt aber nicht, dass nur das persönliche Fortkommen im Vordergrund steht. So hat zum Beispiel Keca Kurda in ihrem kleinen Dorf gegen einige Widerstände den Bau eines neuen öffentlichen Brunnens durchgesetzt, hat eine Spendenkampagne analog und viral organisiert und ist mit praktischem Vorbild vorangegangen. Ich glaube, wenn es eine Aufwandsentschädigung gäbe, dann sähe die aktive Mitarbeit in den Rätestrukturen auf basisnaher Ebene sehr viel besser aus. Die Menschen benötigen einen kleinen finanziellen Ausgleich für die Arbeitszeit, die sie zum Geldverdienen benötigen.
Du hast 2019 den Film „Das Experiment Rojava – Eine Gesellschaft im Aufbruch“ gemacht. Wenn du Deine Erfahrungen von damals und heute in der Region vergleichst, welche Entwicklungen und Veränderungen siehst du?
Nach meinem persönlichen Eindruck hat wie gesagt eine gewisse Kriegsmüdigkeit dazu geführt, dass sich der Elan, den ich 2018 erlebt habe, teilweise verflüchtigt hat. Besonders, was die politische Mitarbeit in der Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene angeht. Die Menschen können im täglichen Überlebenskampf nicht genügend Zeit dafür aufbringen. Jede Minute unbezahlter Arbeit schränkt die persönliche Lebensqualität ein. Demgegenüber ist die Professionalität der selbstverwalteten Projekte gewachsen und das Engagement für die Verbesserung der Frauenrechte im unmittelbaren Lebensumfeld verfestigt sich.

Eine Bäuerin erzählt von ihrer Feldarbeit.
In Syrien ist das Assad-Regime gefallen und die Islamisten der HTS haben eine neue Form autoritärer Herrschaft errichtet. Die Selbstverwaltung setzt sich dafür ein, dass es keinen neuen Krieg gibt, das HTS-Regime geht jedoch brutal gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen vor. Frauen werden aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Wie siehst du die Entwicklungen für Rojava? Welche Perspektiven gibt es?
Offensichtlich werden die Verhandlungen in Damaskus in erster Linie nicht durch Vertreter:innen der autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien geführt, sondern durch den Kommandeur der „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF). Da stellt sich nicht nur für mich die Frage, welche Konsequenzen das für die Errungenschaften des föderalen und basisdemokratischen Politikmodells hat. Werden sie überhaupt in die Gespräche miteinbezogen? Wie kann verhindert werden, dass die Logik des militärischen Apparats ‒ eine notwendigerweise hierarchisch angeordneten Kommandostruktur ‒ ihre autoritären Spuren einer Gesellschaft aufdrückt, die sich zu radikaler Demokratie verpflichtet hat?
Bisher hat man in Rojava die Gratwanderung zwischen militärischer Selbstverteidigung und antiautoritärer Politik erstaunlich gut hinbekommen. Viel wird davon abhängen, ob es beim Wiederaufbau Syriens auf eine föderale Struktur, die die Vielfalt der ethnischen Siedlungsgebiete berücksichtigt, oder einen zentralistischen Staat nach altem Muster hinausläuft. Israel und der Westen bevorzugen einen dezentralen „schwachen“ Staat. Das wäre eine Hoffnung für Rojava, aber ein Albtraum für das türkische Regime. Denn die kurdische Selbstverwaltung „könnte sich nach Einschätzung des Politologen Halil Karaveli zu einem zuverlässigen Verbündeten Israels am strategischen Knotenpunkt zwischen Anatolien, Mesopotamien und der Levante entwickeln.“ (Le Monde diplomatique, Mai 2025, S. 9)
Hoffnungsvoll macht mich das politische Bewusstsein, dass sich durch die Praxis eines kommunitären Gemeinschaftsgeists, angefangen bei Stadtteil-Komitees, in den Köpfen der Menschen ansammelt und widerständig macht gegen Autoritarismus und einsame Entscheidungen, die geostrategische Interessen anderer bedienen.
Du hast ja schon einige Filmprojekte hinter dir, was reizte dich besonders an der Arbeit zu Rojava und was hat dich veranlasst, noch einmal zurückzukommen und einen weiteren Film zu machen?
Mich fasziniert der Versuch der Verwirklichung einer basisdemokratischen Gesellschaft. Das geht unter anderem zurück auf mein Soziologie-Studium. Ich wollte mehr wissen über herrschaftsfreie Institutionen. Den Versuch, Herrschaft zu dezentralisieren und Staatlichkeit auf ein Minimum zu reduzieren. Dieses Thema durchzieht einige meiner Filme, die ich in den sahrauischen Flüchtlingslagern in Algerien, mit palästinensischen Flüchtlingen im Libanon, in Palästina und jetzt in Nord- und Ostsyrien gedreht habe.
Bei den meisten Menschen, denen ich dort während meiner Filmarbeiten begegnet bin, bestand und besteht bis heute die Überzeugung, dass sie ihre kulturelle Identität nur in einem eigenen Nationalstaat behaupten können. Am offensichtlichsten im Widerspruch dazu baut die demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien ein kommunitäres, konföderales Gesellschaftsmodell auf, das auf staatlich-hierarchische Strukturen zu verzichten versucht, zugunsten einer dezentralen, basisnahen Selbstverwaltung ohne den Anspruch auf staatliche Souveränität in klar definierten eigenen Grenzen. Zum ersten Mal habe ich in Rojava den Willen erlebt, ohne einen eigenen Staat auskommen zu wollen, bei unbedingter Beibehaltung der eigenen Identität.
Wo wird Dein Film zu sehen sein? Wo findet die Premiere statt?
Die Deutschland Premiere ist am 3. Juni in Bonn. Alle Informationen zu den Kinoterminen und der Film-Tour, die ich begleite, finden sich auf der Webseite unseres Verleihs W-Film zum Film:
https://www.wfilm.de/trotz-alledem/. Der Trailer zum Film ist auch auf YouTube : https://www.youtube.com/watch?v=H4irJmrT3NE
Hast du weitere Projekte vor?
Im Augenblick geht es mir um die möglichst weite Verbreitung des Films. Danach sehen wir weiter.
Fotos © W-FILM