„Warum Rojava?“ im Deutschen Schauspielhaus

Riyad Derar vom Demokratischen Syrienrat informierte bei einer Podiumsdiskussion im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg über das basisdemokratische Regierungssystem in Nordostsyrien.

Wie funktioniert das Gesellschaftsmodell des demokratischen Konföderalismus in der Praxis? Kann es einer vom Neoliberalismus ausgezehrten Welt ein Modell für eine zukünftige Gesellschaft sein? Wird es sich zwischen den Angriffen der türkischen Armee und der Konsolidierung des syrischen Regimes behaupten können? Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg hatte am vergangenen Donnerstag in Kooperation mit dem Bündnis „Hamburg für Rojava“ im Rahmen der Reihe „FAQ-Room“ zu einer Podiumsdiskussion zu diesen brennenden Fragen geladen.

Wo sonst intellektuelle Medienprominenz wie Slavoj Žižek oder Alexander Kluge gastiert, hatte die Intendanz des Deutschen Schauspielhauses Riyad Derar als Referent gewonnen, um das Publikum über das politische und gesellschaftliche System der demokratischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien zu informieren. Derar ist als Ko-Vorsitzender des Demokratischen Syrienrates (MSD) nicht nur führend an den Verhandlungen zwischen der demokratischen Selbstverwaltung und dem Regime in Damaskus beteiligt, sondern er ist als langjähriger Oppositioneller und Menschenrechtsaktivist auch mit den politischen Verhältnisse vor und während der Revolution von 2011 intim vertraut. Die europäische und deutsche Perspektive vertraten die zwei Mitreferent*innen Dr. Margarita Tsomou, Theaterwissenschaftlerin, Mitgründerin des Berliner „missy magazine“ und Referentin über Demokratietheorie, sowie Thomas Seibert, Philosoph, Dichter und Urgestein der westdeutschen Bewegungslinken. Die Moderation übernahm Prof. Peter Ott, Filmemacher und Künstler.

Zur Einführung stellte Peter Ott die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien mit ihrem Gesellschaftsvertrag, ihrem basisdemokratischen Rätesystem und ihren Ansätzen zur ökologischen und zur Geschlechterfrage kurz vor und erinnerte an den Blutzoll von 11.000 Gefallenen, die der Kampf gegen den IS dieser Bewegung gekostet hat.

Danach wurden Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm „Experiment Rojava in Syrien – Eine Gesellschaft im Aufbruch“ gezeigt, den Robert Krieg 2018 in Nordsyrien drehte und der die Arbeit der Selbstverwaltungsräte zeigt.

Zu Beginn des Vortragsteils wies Riyad Derar auf den Namensstreit hin, der die kurdische Bezeichnung „Rojava“ umgibt, da diese dem multiethnischen und nationenübergreifenden Charakter des Projektes nicht vollständig gerecht wird. Neben der kurdischen Bewegung seien auch noch viele andere demokratische Parteien Teil der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien, die aber anders als der arabische Baath-Nationalismus Assads die Mehrsprachigkeit in Verwaltung und Gesellschaft befürworten.

Dann gab er eine kurzen Abriss der Entwicklung, die das Projekt der demokratischen Selbstverwaltung seit seinen Anfängen durchlaufen hat, von der improvisierten Notgemeinschaft zur Organisation der Grundversorgung der Bevölkerung und der Verteidigung gegen den IS, über den Aufbau der Rätestrukturen, den Abschluss des Gesellschaftsvertrages, der Gründung des Demokratischen Syrienrates bis hin zum Abwehrkampf gegen die Türkei. Derar betonte dabei besonders, dass das gesellschaftliche Hauptziel der Demokratischen Föderation immer auf einen Mentalitätswandel gerichtet sei, da die Ursprünge der Diktatur in Syrien in einer patriarchalen Mentalität begründet seien, die zur Unterdrückung erst von Frauen und Kindern, aber letztlich aller Menschen führen. Daher zählen die politischen Maßnahmen der Frauenbefreiung zu den wichtigsten Errungenschaften der Demokratischen Föderation, wie etwa die gesellschaftliche Aktivierung der Frauen über das System des Ko-Vorsitzes, das Verbot der Polygamie und des asymetrischen Scheidungsrechtes, die Bestrafung von Gewalt in der Ehe und die Einbeziehung der Frauen in die Strukturen der militärischen Selbstverteidigung.

Als die wichtigsten Merkmale des politischen Systems der Demokratischen Föderation nannte Derar die im Gesellschaftsvertrag festgeschriebene Gewaltenteilung, das basisdemokratische Rätesystem, die Dezentralisierung sowie die Parallelverwaltung neben den Institutionen des Syrischen Nationalstaates. In diesen sah er auch ein Modell für die Demokratisierung ganz Syriens, nicht durch gewaltsame Beseitigung des Assad-Regimes, sondern durch eine Verhandlungslösung. Derartige Gespräche seien schon seit geraumer Zeit im Gange, jedoch stelle die Mentalität der Machthaber in Damaskus hier ein großes Hindernis dar. Deren Herrschaftslogik kenne nur die Alternativen Unterwerfung oder Rebellion. Die Idee von Pluralismus und der demokratischen Konsensfindung sei ihnen derzeit noch fremd. Daher sei es um so wichtiger, wie Derar betonte, dass das System der basisdemokratischen Selbstverwaltung im Demokratischen Konföderalismus auch im Westen weiter bekannt gemacht werde und die Möglichkeiten, die dieses für den Mittleren Osten biete, dort gesehen werden.

Dr. Margarita Tsomou identifizierte drei Handlungsfelder, in denen die Gesellschaftspolitik der Demokratischen Konföderation über die Region hinaus zukunftsweisend sei und auch Perspektiven für Europa bieten könne. Zum einen sei es in Rojava mit dem inspirierenden Modell der Rätedemokratie gelungen, Demokratie über das im Westen dominierende juridische System hinauszudenken und Demokratie in der Alltagspraxis zu verankern. Als Vergleichsbeispiel nannte sie die Demokratiekrise in Griechenland, in der sich unter dem Austeritätsregime und während des Versagens gewählter parlamentarischer Regierungen und des Zusammenbruchs staatlicher Sozialsysteme zwar eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher und genossenschaftlicher Nothilfeprojekte in das entstandene Vakuum gegründet hätten. Trotz eines Entstehens einer neuen Mentalität in diesen Selbsthilfeinitiativen sei es hier jedoch nicht gelungen, diese Mentalität über die praktische Alltagshilfe hinaus in eine neue Form der politischen Partizipation zu überführen.

Zweitens haben die politischen Kräfte in Rojava laut Tsomou erkannt, dass die Frage staatlicher Gewalt und kapitalistischer Ausbeutung nicht von der Geschlechterfrage zu trennen ist. Der Staat sei in seiner historischen Entwicklung ein genuin männliches Konstrukt, der auf Konstruktionen männlicher Gewalt und der geschlechtsmäßigen Trennung von öffentlicher, politischer Produktions- und privater Reproduktionssphäre beruhe. In Rojava sei die Reproduktionsarbeit in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Öffentlichkeit gerückt und die Frau so als politisches Subjekt neu konstituiert worden. Diese Entwicklung sei im Westen noch nicht gelungen.

Drittens stehe bei der ökologischen Frage die Wachstumslogik des Kapitalozäns in unauflösbarem Widerspruch zu der Logik der Aufrechterhaltung des Lebens. Nur eine direkte demokratische Kontrolle der Produktion könne langfristig der Logik des Lebens den Ausschlag geben. Eine radikale Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche wie in Rojava könne hier die richtige Lösung bieten.

Thomas Seibert nahm die Gelegenheit zum Anlass, um Überlegungen über den Menschenrechtsbegriff anzustellen. Aus seinen Reisetätigkeiten bei medico international zog er die Lehre, dass revolutionäre Befreiungsbewegungen in der Regel scheitern würden, auch bedingt durch an ihrer inneren Ambivalenz. Er lobte jedoch das Projekt Rojava für seine pluralistischen Grundsätze, auch wenn es sich „auf verlorenem Posten“ befinde. Zur Geschichte der Menschenrechte hob Seibert die Tatsache hervor, dass diese revolutionär erklärt worden seien und sich seitdem gewissermaßen eine permanente Revolution der Menschenrechte abspiele.

Auf eine kurze Zusammenfassung der Beiträge wurde auf Anregung aus dem Publikum verzichtet und in der sich anschließenden Diskussionsrunde wurde besonders Riyad Derar mit Zuschauerfragen bestürmt. Auf die Frage nach den Parallelstrukturen zwischen Selbstverwaltung und dem syrischen Staat wiederholte er, dass die demokratische Bewegung in Nordostsyrien trotz immer gleicher Vorwürfe keinen eigenen Staat fordere, sondern eine gesellschaftliche Lösung und Versöhnung in den bestehenden Grenzen anstrebe. Optimistisch für eine gemeinsame Verwaltung in der Zukunft stimmte Derar die bisherige erfolgreiche Praxis, bei der beispielsweise der Flughafen Qamişlo durch das Regime in Damaskus betrieben werde. Eine besondere Eigenheit der Parallelexistenz von basisdemokratischer und staatlicher Verwaltung sei aber eine gewisse Konkurrenzsituation. So habe der syrische Staat seine Entlohnung für Lehrer deutlich erhöht, um dem Bildungssystem der Selbstverwaltung die Lehrkräfte abzuwerben. Im Gerichtswesen verhandeln die Gerechtigkeitskommissionen der Selbstverwaltung deutlich mehr Zivilfälle als die staatlichen Gerichte, da ihre Rechtsprechung auf Versöhnung und gesellschaftliche Lösung angelegt sei. Aber eigene Souveränitätsrechte wie eine eigene Währung seien von der Demokratischen Konföderation nicht angestrebt.

Bezüglich einer Frage nach der Verantwortung der europäischen Staaten betonte Derar, dass die Demokratische Föderation durch die Gewaltpolitik der Türkei derzeit in ihrer Existenz gefährdet werde und dass Europa die Protegierung Erdogans beenden müsse. Ein spezielles Problem stellen die inhaftierten IS-Kämpfer auch aus Europa dar, die in der Föderation human behandelt werden, während ihnen beim Assad-Regime Folter und Hinrichtung drohen. Trotzdem müssen sie für ihre Verbrechen verurteilt werden und deswegen müssen die Europäischen Staaten die Selbstverwaltung der Demokratischen Föderation auch anerkennen, wenn sie eigenen Staatsbürger unter den Dschihadisten nicht straffrei zurücknehmen wollen, folgerte Derar.

Einer Wortmeldung aus dem Publikum, die die intellektuelle Abgehobenheit der Referenten beklagte und die Lösung wichtiger Probleme in Deutschland verlangte, begegnete Margarita Tsomou mit der Bemerkung, dass nicht übermäßige Intellektualität für die derzeitigen politischen Krisen wie etwa in Griechenland verantwortlich sei, sondern das Fehlen von emanzipativen Visionen und Konzepten. Statt Armut zu verwalten und sich in antagonistischen Reflexen zu versteigen, sollte man eher ein politisches Projekt gestalten und die Umrisse eines solchen seien in Nordostsyrien erkennbar.

Auf seine Lehrtätigkeit als islamischer Imam angesprochen beschrieb Riyad Derar, dass er schon als islamischer Prediger für Aufklärung und Pluralismus geworben habe und dass Religion ohne Aufklärung nichts wert sei. Überhaupt müssten demokratische Konzepte verstärkt in die Religionen übernommen werden. Die demokratisch gestimmten Menschen in Syrien fürchteten sich sowohl vor einem Islamismus aus Idlib als auch vor einem Islamismus aus Damaskus. Das Projekt der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens sei ein Projekt, dass fest auf den Werten der Aufklärung aufbaue, betonte Derar und beschloss damit die Veranstaltung.

Fotos: Hinrich Schultze | http://www.dokumentarfoto.de