Anfang Mai wurde bei Phoenix erstmalig die Dokumentation „Experiment Rojava in Syrien - Eine Gesellschaft im Aufbruch” von Robert Krieg gezeigt. Robert Krieg ist ein deutscher Dokumentarfilmer, Soziologe und Autor, der sich im vergangenen Jahr mehrfach in Rojava aufgehalten hat. In den 1990er Jahren war er Dozent an der Internationalen Hochschule für Film und Fernsehen in San Antonio (Kuba) und leitete in den palästinensischen Gebieten ein von der Europäischen Union gefördertes Ausbildungsprojekt für Radio- und Fernsehjournalismus. Seit 2016 ist er zudem Mitglied im Rundfunkrat des WDR.
Im ANF-Interview hat sich Robert Krieg zur Entstehung seines Films und seinen Eindrücken in Rojava geäußert.
Wie oft und wie lange waren Sie in Rojava?
Ich war zweimal in Rojava. Das erste Mal gemeinsam mit einer Delegation zweier Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke vom 27. Mai bis 4. Juni 2018.
Das zweite Mal allein vom 12. November bis 4. Dezember 2018. Ich kenne aber Syrien und den Nahen Osten von früheren Arbeitsaufenthalten. Ich habe mehrere Filme über den Palästina-Israel-Konflikt gedreht und mit dem syrischen Regisseur Nabil Maleh, der leider viel zu früh verstorben ist, an einem Film über drusische Studenten in Damaskus und ihre Familien auf den von Israel besetzten Golan-Höhen gearbeitet.
Gab es Schwierigkeiten bei der Einreise nach Rojava?
Ich habe zwei Monate lang auf die Einreisebewilligung der irakischen Grenzbehörde (Peshabor Relation Center) gewartet. Als ich diese dann endlich hatte, gab es keinerlei Probleme mehr.
Ihr Film dokumentiert explizit die gesellschaftlichen Aufbrüche und nicht die aktuellen politischen Entwicklungen in Rojava und Syrien.
Genau darum ist es mir auch gegangen. Ich wollte erfahren, wie es gelingen kann, ein antihierarchisches, konföderales Demokratiemodell im Nahen Osten zu verwirklichen. Das ist schon in Europa kaum vorstellbar. Um so weniger in einer Region, die von autoritären, demokratiefeindlichen Regimes beherrscht wird. Das, was die Menschen in Rojava zu verwirklichen versuchen, wäre ein authentischer Gegenentwurf, der mich an den Beginn der ersten Intifada in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten erinnert. Gerade auch, was die Rolle der Frauen in diesem Prozess angeht. Das Bild, das wir im Westen vom Nahen Osten haben, ist gekennzeichnet von Krieg, Vertreibung und Rechtlosigkeit. Dass es trotz der schier ausweglos wirkenden Lage auch Gelingendes geben kann, das kommt in der westlichen Berichterstattung, von der ich ein Teil bin, so gut wie nicht vor.
Es kommen sehr unterschiedliche Menschen zu Wort. Wie ist es Ihnen gelungen, den Kontakt zu ihnen herzustellen?
Das entspricht meiner Vorgehensweise. Ich versuche immer, möglichst unmittelbar mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen und verzichte dabei gern auf offizielle und vorab vermittelte Kontakte. Die Verantwortlichen der Region haben mich trotz der vom Krieg überschatteten Lage - die Türkei ist nur wenige Kilometer entfernt – frei gewähren lassen und mir keinerlei Auflagen gemacht. Das zeugt von Souveränität. Ich habe mich auf die Stadt Amûdê konzentriert, da sie übersichtlich und fußläufig ist. Zugleich wirkte sie auf mich wie ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Aufbruchs im Kleinen. Alle Entwicklungen, ihre Widersprüche, ihre Fortschritte und Rückschritte lassen sich in Amûdê wie unter einem Vergrößerungsglas beobachten. Dazu kam, dass nach zehn Tagen mich die Menschen gekannt und nicht mehr als Fremdkörper empfunden haben. Die jahrzehntelange Erfahrung als dokumentarischer Filmemacher hat mich darin geschult, intuitiv geeignete Orte und Momente zu entdecken. An einem Freitag - unserem Sonntag vergleichbar - steuerte ich ein typisches Kaffeehaus an, - davon überzeugt, ein paar gesprächsbereite Jugendliche anzutreffen. Es fiel dann meinem Übersetzer nicht schwer, mehrere junge Männer dazu zu bringen, freimütig über ihre berufliche Zukunft zu sprechen und dabei nicht mit Galgenhumor zu sparen. In einem anderen Moment weckte im alten Ortszentrum das verwitterte Schild der Kurdischen Kommunistischen Partei meine Neugierde. Im Parteilokal trafen wir auf einen pensionierten Lehrer, der mir spontan einen detaillierten Abriss der kurdischen Geschichte seit dem Zerfall des Osmanischen Reichs lieferte.
Was sind Ihre wichtigsten Eindrücke von Rojava?
Mein stärkster Eindruck ist der Mut, der in diesem Projekt steckt. Da mögen die Flüchtlingszahlen bei uns in Deutschland darüber hinwegtäuschen, - aber die meisten Menschen, die ich in Rojava getroffen habe, setzen darauf, dass ihre Heimat eine Zukunft hat. Sie strahlen Pragmatismus, Selbstvertrauen und einen gewissen Stolz aus. Sie sind mir mit großer Offenheit begegnet. Sie wollen sich nicht unterkriegen lassen. Obwohl sie permanent damit rechnen müssen, von der Türkei und ihren islamistischen Hilfstruppen überfallen zu werden, herrscht ein enormer Aufbauwille. Überall werden Gebäude hochgezogen, die doch jederzeit einem Luftangriff zum Opfer fallen können. Diese widerständige Haltung hat natürlich mit der Unterdrückung zu tun, der die Kurden spätestens seit dem Zerfall des Osmanischen Reichs ausgesetzt sind.
Wie schätzen Sie den gesellschaftlichen Prozess in Rojava ein?
Die Frauen sind dabei, sich einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft (zurück-) zu erobern. Sie wissen, dass die ökonomische Unabhängigkeit von Mann und Familie dabei der entscheidende Faktor ist und suchen nach Möglichkeiten selbständiger Arbeit. Sie schließen sich in Genossenschaften zusammen. Sicherlich ist die genossenschaftliche Bewegung erst im Werden und spielt gesamtökonomisch gesehen noch keine größere Rolle. Aber schon jetzt werden die Erfahrungen, die sie dabei machen, gesamtgesellschaftlich wirken und der Emanzipation der Frauen einen enormen Schub versetzen. Das Gleiche gilt für die basisdemokratische Selbstverwaltung. Sie durchbricht die herkömmlichen Muster autoritärer Herrschaftsausübung, die ihre Macht durch Klientelwirtschaft absichert und auch in den kurdisch besiedelten Gebieten an der Tagesordnung war. Die Bewegung hat dem Nationalismus abgeschworen: Eine radikale Abkehr von einer rückwärts gewandten Politik, die in Europa als überwunden galt und nun die Zukunft unseres Kontinents bedroht. Ein authentischer Gegenentwurf zu allem Bisherigen, bedingt durch eine Ausnahmesituation, die im syrischen Bürgerkrieg entstanden ist. Jetzt muss es darum gehen, diese radikaldemokratischen Keime in eine friedliche Zukunft hinüber zu retten und zu starken Wurzeln heranwachsen zu lassen. Eine fast übermenschliche Aufgabe, an der auch die palästinensische Zivilgesellschaft, die sich in der ersten Intifada manifestierte, gescheitert ist.
Planen Sie weitere Projekte in Rojava?
Zunächst wollen wir das Filmmaterial, das wir in Rojava gedreht haben, ausführlich in Deutschland auswerten. Die jetzige Länge des Films, 43:30 Minuten, war eine Vorgabe des Sendeplatzes im Fernsehprogramm. Wir planen jetzt eine 60 minütige Version, die wir im Herbst verbunden mit einem Publikumsgespräch in möglichst vielen deutschen Städten und Gemeinden zeigen wollen. Dabei wünschen wir uns natürlich Unterstützung durch die kurdische Community in Deutschland und freuen uns auf eine fruchtbare, vorwärtsbringende Auseinandersetzung um die Zukunft der Menschen im Nahen Osten. Ob sich daraus ein weiteres Projekt in Rojava ergibt, wird sich zeigen.