Nordkurdistan: 18.507 Menschenrechtsverletzungen in 2017

Die Amed-Sektion des Menschenrechtsvereins IHD hat ihre Jahresbilanz zu den Menschenrechtsverletzungen in den nordkurdischen Städten veröffentlicht.

Der Menschenrechtsverein IHD (İnsan Hakları Derneği) hat einen Bericht zu den Menschenrechtsverletzungen in den nordkurdischen Gebieten für das Jahr 2017 veröffentlicht. Auf einer Pressekonferenz der IHD-Sektion von Amed (Diyarbakır) erklärte der IHD-Vorsitzende von Amed, Raci Bilici, dass der Ausnahmezustand (OHAL), der bereits 18 Monate anhält und erst im Januar um weitere drei Monate verlängert wurde, einen Großteil der Bevölkerung benachteilige. Durch das Erteilen von Notstandsdekreten (KHK) während des Ausnahmezustands wurden mehrere Tausend öffentlich Beschäftigte und Akademiker*innen ohne jegliche Rechtsgrundlage aus dem Staatsdienst entlassen. Bilici wies darauf hin, dass 145 Journalist*innen und Medienbeschäftigte im Gefängnis sitzen und das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit kontinuierlich durch Gouverneure und Landräte eingeschränkt wird.

10 Abgeordnete und über 65 Bürgermeister*innen im Gefängnis

Das gewaltsame Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte führe dazu, dass Bürger*innen ihr nach Artikel 34 der türkischen Verfassung festgeschriebenes Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht ausüben können. Bilici betonte, dass sich neben den ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ acht weitere Parlamentsabgeordnete und über 65 Ko-Bürgermeister*innen im Gefängnis befinden. Zudem wurde die von der Bevölkerung gewählte Vertretung von 93 der insgesamt 102 Lokalverwaltungen unter der Federführung der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) abgesetzt und durch staatlich eingesetzte Treuhänder ersetzt.

3.787 Festnahmen, 788 Verhaftungen

Weil die türkische Justiz vom politischen Diskurs beeinflusst werde, finden Verhaftungen und Festnahmen ohne jeglicher Rechtsgrundlage statt. 3.787 Personen, darunter 20 Kinder, wurden in der Region im vergangenen Jahr festgenommen. 788 Personen, darunter zwei Kinder, wurden verhaften. Bilici betont, dass es sich hierbei um Zahlen handelt, die vom IHD-Amed ermittelt wurden. Des weiteren wurden mindestens 2.900 Wohnungen und Geschäfte von Sicherheitskräften gestürmt. Unzählige Festnahmen und Verhaftungen, insbesondere wegen kritischer Beiträge in den sozialen Medien, wurden als „Mitgliedschaft in einer [verbotenen] Organisation“, „Unterstützung einer [verbotenen] Organisation“, „Propaganda für eine [verbotene] Organisation“ gewertet und dementsprechend behandelt. Dies stelle eine klare Verletzung der Sicherheit und Freiheit der Bürger*innen dar, so Bilici.

Bilici betonte, dass die Rechtsverstöße in Gefängnissen ebenfalls zugenommen haben und mit der Erteilung des Ausnahmezustands die Zahl der Zwangsverlegungen gestiegen ist. Einschränkungen in der medizinischen Versorgung, Kontakten zu anderen Gefangenen, Kommunikation mit Angehörigen und eingeschränkte Angehörigenbesuche stünden ebenso auf der Tagesordnung von Gefängnissen wie Misshandlungen und Folter, Disziplinarmaßnahmen, Isolation und dem Verbot der eigenen Muttersprache.

Isolationshaft Öcalans hält weiter an

Mit der Feststellung, dass insbesondere die Verletzung des Rechts auf Gesundheit erheblich verletzt wird, seien laut Bilici mindestens 1.025 kranke Gefangene, 357 von ihnen schwerkrank, sich selbst überlassen. In Bezug auf die anhaltende erschwerte Isolationshaft des kurdischen Volksrepräsentanten Abdullah Öcalan sagte Bilici: „Die Tatsache, dass Öcalan und fünf weitere politische Gefangene auf der Gefängnisinsel Imrali von ihren Angehörigen und Anwält*innen nicht kontaktiert werden dürfen, stellt eine Verletzung ihrer Menschenrechte dar. Personenspezifische Praktiken in Gefängnissen sind nicht mit Menschenrechten und dem humanitären Recht vereinbar. Aus diesem Grund fordern wir das sofortige Ende der Isolationspraktiken.“

Ausgangssperren

Die Tatsache, dass Hunderte Gebiete in den ländlichen Siedlungsgebieten wegen Militäroperationen zu sogenannten Sondersicherheitszonen erklärt werden, führe dazu, dass es Bewohner*innen dieser Gebiete nicht mehr möglich ist, einen normalen Tagesablauf aufrechtzuerhalten. Weiter gab Bilici an, dass es während ausgebrochener Waldbrände zu finanziellen Einbußen bei der dortigen Bevölkerung gekommen sei und bei Razzien im Rahmen von militärischen Operationen Zivilist*innen von Sicherheitskräften misshandelt, gefoltert und unrechtmäßig in Gewahrsam genommen wurden.

Schändung von Guerilla-Grabstätten

Über systematische Leichenschändungspraktiken türkischer Sicherheitskräfte hinsichtlich kurdischer Guerillakämpfer*innen sagte Bilici: „Die Zerstörung und Schändung der Grabstätten von Guerillakämpfer*innen der PKK, die Exhumierung der Leichname auf Anordnung der Staatsanwaltschaft, ist eine Schande für die Menschheit. Diese Handlungen können weder in humanistischer noch religiöser Hinsicht begründet werden. Wir erinnern daran, dass solch gewissenlose und unrechtmäßige Handlungen zu moralischer Zermürbung bei den Angehörigen der Verstorbenen führen und die Exhumierung von Leichnamen ohne Erlaubnis der Angehörigen einen juristischen Skandal darstellen.“

45 Frauen ermordet

Bilici betonte, dass Gewalt von Männern als Ausdruck der Vorherrschaft in Bezug auf die Lebensweise von Frauen weiterhin existiert. Infolgedessen sind im Jahr 2017 mindestens 45 Frauen von ihren Partnern oder Familienangehörigen ermordet worden. 13 Frauen haben den Freitod gewählt. In 37 Fällen ist es zu körperlicher Gewalt an Frauen gekommen, acht Frauen wurden sexuell missbraucht und fünf weitere Frauen wurden zur Prostitution gezwungen. Nach Angaben von Bilici handele es sich bei diesen Zahlen lediglich um die Fälle, die der Menschenrechtsverein ermitteln konnte.

In Bezug auf Gewalt an Kindern und Minderjährigen machte Bilici folgende Angaben: „Neben Kindern, die durch Gewaltanwendung getötet wurden, rückt die Zunahme von Fällen sexueller Gewalt und des Missbrauchs an Kindern im sozialen Leben, insbesondere in Einrichtungen wie Schulen und Internaten, ins Zentrum der Aufmerksamkeit.“ 2017 sind demnach in der Region 12 Kinder durch Gewaltanwendung getötet worden. Acht Kinder haben Selbstmord begangen. Zwei Minderjährige wurden zur Prostitution gezwungen und 95 Kinder sind sexuell missbraucht worden.

Zusammengefasst führen wir weitere Menschenrechtsverletzungen der Bilanz des IHD für 2017 auf:

136 Sicherheitskräfte ums Leben gekommen

Bei bewaffneten Auseinandersetzungen in der Region kamen 136 Sicherheitskräfte ums Leben. 258 weitere wurden verletzt. Die Zahl der Mitglieder bewaffneter Organisationen, die ums Leben gekommen sind, belaufe sich laut IHD auf 461. In mindestens sechs Fällen kam es zu Verletzungen. Bei Gefechten zwischen türkischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Organisationen haben elf Zivilist*innen ihr Leben verloren. Ein Zivilist wurde verletzt. Neun Soldaten und Polizisten kamen auf ungeklärte Weise, 13 Menschen bei Anschlägen ums Leben, 32 Personen wurden verletzt.

Minderjährige Todesopfer durch Landminen

Sieben Personen, darunter sechs Kinder haben durch die Explosion von Landminen ihr Leben verloren, weitere 28, darunter eine Frau und 17 Kinder wurden durch Explosionen verletzt. Eine Person wurde im Grenzgebiet von iranischen Sicherheitskräften erschossen. 20 Menschen, darunter sieben Kinder, wurden von Panzerfahrzeugen der türkischen Armee überfahren und getötet. In 38 Fällen, darunter drei Kinder, kam es zu Verletzungen bedingt durch den Zusammenstoß mit Panzerfahrzeugen. Neun Menschen wurden von Sicherheitskräften erschossen, weil sie auf Warnhinweise nicht reagiert hätten, in weiteren zehn Fällen kam es zu Verletzungen. Zwei Gefangene kamen auf ungeklärte Weise ums Leben, weitere zehn bei Anschlägen, die nicht aufgeklärt werden konnten.

83 Ausgangssperren erteilt

Wegen militärischen Operationen kam es zu 13 Waldbränden in der Region. 35 Mal wurden mehrere Hundert Ortschaften und umfassende Gebiete zu sogenannten Sondersicherheitszonen erklärt, weitere 83 Mal sind Ausgangssperren erteilt worden. Die Leichname von 24 Guerillakämpfer*innen, die bei Gefechten ihr Leben verloren haben, sind ihren Angehörigen nicht ausgehändigt worden. In mindestens acht Fällen wurden Grabstätten oder Friedhöfe der Guerilla geschändet. Die Leichname von 267 Guerillakämpfer*innen wurden auf Anweisung der Staatsanwaltschaft exhumiert und in die Gerichtsmedizin verschleppt.

2.900 Hausdurchsuchungen

In 29 Fällen wurden Personen in Polizeigewahrsam gefoltert oder misshandelt, weitere 153 Menschen sind von Sicherheitskräften auf offener Straße oder in ihren Häusern/Wohnungen während Razzien gefoltert worden. 433 Gefangene wurden in Haftanstalten misshandelt. 14 weiteren ist auferlegt worden, Spionage zu treiben wobei 20 Gefangene erpresst worden sind. 65 Menschen sind auf öffentlichen Veranstaltungen von Sicherheitskräften verletzt worden.

Nach Informationen der IHD-Sektion von Amed wurden im Jahr 2017 mindestens 3.858 Personen festgenommen, darunter 20 Minderjährige. In 788 Fällen kam es zu Verhaftungen und mindestens 2.900 Mal wurden Häuser und Wohnungen von Sicherheitskräften gestürmt und durchsucht.

35 Vereine geschlossen

Aufgrund des herrschenden Ausnahmezustands durften acht Veranstaltungen nicht durchgeführt werden. Elf Radio/TV-Anstalten wurden verboten, ein Zeitungsvertrieb wurde gestürmt. Sieben Medienorgane wurden geschlossen und der Zugang zu sieben Online-Nachrichtenportalen gesperrt. 31 öffentliche oder nichtöffentliche Gebäude von Parteibüros, Vereinsräumlichkeiten oder Gemeindeverwaltungen wurden angegriffen. 35 Vereine, eine Stiftung und vier Bildungs- und Kultureinrichtungen wurden geschlossen.

In 17 Fällen griffen Sicherheitskräfte öffentliche Veranstaltungen an. In einigen Städten wurde ein durchgehendes Aktivitätsverbot erteilt, in anderen Städten ist das Aktivitätsverbot Monat für Monat erneuert worden.

630 Gefangene verlegt

630 Gefangene wurden gegen ihren Willen und ohne Nennung von Gründen verlegt. 159 Gefangene wurden in ihrem Recht auf Gesundheit eingeschränkt. 14 Gefangenen wurde Angehörigenbesuch verboten, weitere 95 Gefangene mussten Isolationshaft erdulden. Sechs Gefangenen wurden Disziplinarstrafen erlegt während elf Gefangenen das Recht auf Kommunikation verweigert wurde. 44 Gefangene wurden ihrer sozialen Rechte beraubt. Viermal wurde das Recht auf Verwendung der Muttersprache verletzt.

30 Menschen bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen

Bei Arbeitsunfällen infolge von ungesicherten Arbeitsplätzen kamen 30 Menschen ums Leben, weitere 26 wurden verletzt. 931 Menschen sind entlassen worden. 229 Angestellte im öffentlichen Dienst wurden freigestellt und 4.547 Staatsbedienstete im Zuge des Ausnahmezustands per Dekret entlassen. Gegen 83 Staatsbedienstete wurden Verfahren eingeleitet während 20 weitere zu Verwaltungsstrafen verurteilt worden sind.

MA