Katastrophale Lage für Schutzsuchende in griechischen Hotspots

Zehntausende Schutzsuchende sitzen in völlig überbelegten Lagern auf den griechischen Inseln fest und warten auf die Entscheidung, ob sie in die Türkei zurückgewiesen werden oder auf griechisches Festland einreisen können.

Seit dem EU-Türkei-Deal im Jahr 2016 erfüllen die berüchtigten Lager auf den griechischen Inseln die Funktion, ankommende Schutzsuchende die versuchen, über die Ägäis nach Europa zu gelangen, in die Türkei zurückzuschieben. Dem im März vereinbarten EU-Türkei-Abkommen zufolge sollen alle Schutzsuchenden, die über diesen Weg die griechischen Inseln erreichen und keine türkischen Staatsbürger sind, in die Türkei zurückgeschoben werden. Solange werden sie in Erstaufnahme- und Registrierungszentren, den sogenannten Hotspots festgehalten.

Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion die LINKE, Ulla Jelpke und die migrationspolitische Sprecherin der Partei Gökay Akbulut stellten eine gemeinsame Kleine Anfrage zur Lage in den Hotspots in Griechenland.

„Kaputtgespartes Griechenland wird mit Versorgung der Schutzsuchenden allein gelassen“

Aus der Anfrage geht hervor, dass im Jahr 2017 rund 29.500 Schutzsuchende auf den griechischen Inseln ankamen. Die Zahl für 2018 dürfte ähnlich ausfallen, bis 30. November waren 27.231 Schutzsuchende auf den griechischen Inseln gelandet, die Mehrheit von Ihnen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Bis zum gleichen Zeitraum flohen 432 Personen aus der Türkei über die Ägäis. Die Zahl der Schutzsuchenden in Griechenland ist vom 2. Quartal 2016 von 51.313 bis zum 4. Quartal 2018 kontinuierlich auf über 64.900 Schutzsuchende gestiegen. Das sind mehr als 25 Prozent. Die Abgeordnete Ulla Jelpke sieht darin ein Versagen des EU-Verteilungsmechanismus nach der Dublin-Verordnung und erklärt: „Die Zahlen zeigen deutlich, dass immer mehr Schutzsuchende im kaputtgesparten Griechenland festsitzen. Das ungerechte Dublin-System verdammt tausende Schutzsuchende, sich als Obdachlose auf dem griechischen Festland durchzuschlagen oder den Weg über die gefährliche Balkanroute auf sich zu nehmen. Trotz dieser menschenunwürdigen Zustände finden weiterhin Dublin-Überstellungen aus Deutschland nach Griechenland statt. Das ist eine Schande. Wir brauchen stattdessen ein solidarisches Asylsystem, in dem Schutzsuchende in einem EU-Staat ihrer Wahl Asyl beantragen können.“

Massive Überbelegung in griechischen Hotspots

Die große Mehrheit der Schutzsuchenden kam 2018 mit 49% auf Lesbos an. Dort befindet sich der berüchtigte EU-Hotspot „Moria.“ In dem größten Hotspot Griechenlands befanden sich zum 31. Oktober des vergangenen Jahres 7.616 Menschen. Die eigentliche Kapazität liegt bei 3.100 Menschen. Während das Hotspot-System in der gesamten Ägäis offiziell für 6.438 Schutzsuchende ausgelegt ist, befanden sich Ende Oktober 16.890 Schutzsuchende dort. Das entspricht einer durchschnittlichen Überbelegung um den Faktor 2,7. Am deutlichsten wird die Überbelegung beim Hotspot „Vathy“ auf der Insel Samos. Hier beträgt die Höchstbelegungskapazität 648 Plätze – im Hotspot befinden sich aber 4.996 Menschen. Das bedeutet, auf einen Platz kommen 7,7 Personen. Ulla Jelpke kommentiert die Überbelegung und die Pläne, weitere Lager zu bauen: „Die teils massive Überbelegung der Lager in den Hotspots zeigt das Drama der EU-Flüchtlings- und Migrationspolitik. Auf einen vorgesehenen Platz kommen in manchen Hotspots mehr als sieben Personen. Das widerspricht den elementarsten Menschenrechten. Doch wie lautet der von der Bundesregierung vorgeschlagene Lösungsansatz? Mehr Freiluftknäste bauen und mehr abschieben. Statt zusätzliche Lager zu bauen, muss dieses schreckliche Lagersystem endlich abgeschafft werden.“

Hunderte unbegleitete Kinder und Jugendliche ohne Betreuung in Hotspots

Zum 31. Oktober befanden sich 586 unbegleitete Kinder und Jugendliche in griechischen Hotspots, 360 davon in Moria. Nur 62 von ihnen werden anders untergebracht als der Rest der Lagerbewohner*innen. Es gibt praktisch keine Plätze für Kinder und Jugendliche in Hotspots und die 188 die existieren, wurden von NGOs geschaffen, und nicht etwa von der EU-Regierung.

Tausende unbegleitete Kinder und Jugendliche sitzen auf dem griechischen Festland auf der Straße

Auf dem griechischen Festland gab es zum 31. Oktober 2018 1.210 Plätze in langfristigen Unterkünften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sowie 820 Plätze in temporären Unterkünften. Aber allein 1.889 unbegleitete minderjährige Schutzsuchende befinden sich auf der Warteliste. Ulla Jelpke sagt dazu: „Die Situation auf dem griechischen Festland ist für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht besser als in den Hotspots. 1.889 von ihnen befinden sich auf dem griechischen Festland auf den Wartelisten. Viele von ihnen leben auf der Straße. Hier werden sehenden Auges Kinder- und Menschenrechte verletzt.“

Lebensbedingungen in Hotspots: Bundesregierung kennt Berichte über Zunahme von Suiziden und sexualisierter Gewalt

Die Bundesregierung spricht von „teilweise unbefriedigenden Lebensbedingungen in Hotspots“, aber Hotspots leisteten einen „bedeutenden Beitrag“ zur „Migrationssteuerung“. Deutschland hat Kenntnis von Berichten über einen Anstieg von sexualisierter Gewalt, insbesondere im Hotspot von Lesbos, spricht aber nur von vier Todesfällen in den Hotspots von Samos und Lesbos. Besonders zynisch ist die Begründung der Bundesregierung für die Zustände in den Einrichtungen. Verantwortlich für die schlechten Bedingungen seien zu viele Ankünfte und zu wenige Abschiebungen. Versorgungslücken erwähnt die Bundesregierung in ihrer Antwort nur am Rande. Ulla Jelpke sagt dazu: „Dass die Bundesregierung nur Kenntnis von vier Todesfällen haben will, ist ein Armutszeugnis. Gespräche mit Mitarbeitern und Helfern in den Hotspots zeugen davon, dass immer wieder Menschen dort durch Suizide, fehlende oder unzureichende medizinische Versorgung, Hitze oder Kälte sterben. Allein die Tatsache, dass diese vermeidbaren Tode offensichtlich nicht dokumentiert werden, zeigt die menschenverachtende Logik der Bundesregierung.“ Sie macht insbesondere Deutschland als „treibende Kraft der Abschottung Europas für das Elend in den Hotspots“ verantwortlich.

Winterversorgung ist mehr als mangelhaft

Auf den griechischen Inseln wird es im Winter empfindlich kalt. Dennoch scheint der Schutz der Schutzsuchenden vor den eisigen Winternächten, dem Dauerregen und dem Schnee höchstens zweitrangig zu sein. So wurden für den Winter 2017/2018 zwar Stromnetze zur Beheizung ausgebaut, winterfeste Kapazitäten erweitert und Decken verteilt. Die Bundesregierung räumt jedoch ein, dass diese Maßnahmen teilweise erst am Ende des Winters abgeschlossen worden sind. Für den kommenden Winter sieht es kaum besser aus. So erklärt die Bundesregierung gefragt nach Vorbereitungen auf den Winter, wonach am 22. Oktober 2018 eine Ausschreibung über 3.000 Decken, 3.000 Anoraks, 3.000 Schlafsäcke veröffentlicht worden sei. Also 3.000 Sets für über 16.000 Personen. Die Bundesregierung muss eingestehen, dass nach ihrer Kenntnis der Schutz der Geflüchteten vor dem aktuellen Winter nicht angemessen ist, zieht jedoch keine Konsequenzen daraus. Ulla Jelpke sieht dahinter eine Zermürbungs- und Abschreckungstaktik: „Hinter dieser vollkommen unzureichenden Winterhilfe verbirgt sich offensichtlich das Ziel, Flüchtlinge zu zermürben und abzuschrecken, wobei auch Todesopfer in Kauf genommen werden.“

Extrem lange Verfahrensdauern lassen Flüchtlinge Jahre in Hotspots verbringen

Bis zur Anhörung müssen Schutzsuchende zwischen zwei und neun Monaten im Hotspot warten. Ein Widerspruchsverfahren dauert nach Angaben der Bundesregierung durchschnittlich 120 Tage. Allerdings dauern viele Verfahren in der tatsächlichen Praxis wesentlich länger.

Über 7.800 Widersprüche gegen Abschiebung in Türkei

7.812 Schutzsuchende haben seit Inkrafttreten der EU-Türkei-Erklärung am 1. Januar 2016 von ihrem Recht auf Widerspruch Gebrauch gemacht.

Mitarbeiter*innen des BAMF sind vor allem als Anhörer*innen tätig und geben Entscheidungsempfehlungen ab (Frage 32.). Im materiellen Entscheidungsverfahren folgen die Mitarbeiter*innen der griechischen Behörden zu 90 % den Empfehlungen der BAMF-Mitarbeiter*innen. Im Zulässigkeitsverfahren beträgt der Deckungsgrad zwischen den Empfehlungen des BAMF und den Entscheidungen der griechischen Behörden weniger als 90 %, die Bundesregierung macht aber keine genauen prozentualen Angaben (Frage 37).

1.766 Menschen in Türkei zurückgewiesen

Seit dem 21. März 2016 (Inkrafttreten EU-Türkei-Erklärung) wurden 1.766 Personen in die Türkei „zurückgeführt.“ Davon 678 aus Pakistan, 337 aus Syrien, 196 aus Algerien, 100 aus Afghanistan, 99 aus Bangladesch, 70 aus Irak, 51 aus Marokko, 47 aus Iran, 18 aus Ägypten und 18 aus Nigeria. Griechische Behörden werden bei der Zurückweisung von Flüchtlingen durch die Europäische Grenz- und Küstenwache FRONTEX unterstützt. Es gibt in der Türkei kein Recht auf Asyl für Menschen, die nicht aus der EU kommen, da die Türkei die Genfer Konvention mit geographischem Vorbehalt ratifiziert hat. Ulla Jelpke kommentiert: „Durch den EU-Türkei-Deal macht sich die EU nicht nur zur Komplizin eines expansionistischen Folterregimes, sondern schickt auch Menschen aus Drittstaaten, die in der EU Schutz suchen, zurück in die türkische Diktatur. Dort haben sie noch nicht einmal ein rudimentäres Recht auf Asyl und werden häufig illegal in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Dies widerspricht eklatant dem humanitären Völkerrecht.“

Keine unvoreingenommene Asylverfahrensberatung

Unter anderem betreuen Mitarbeiter des deutschen BAMF die „Infopoints“ zur Asylverfahrensberatung in griechischen Hotspots. Das bedeutet, dass der Personenkreis, der anhört und entscheidende Empfehlungen ausspricht, gleichzeitig eine „unabhängige“ Beratung bieten soll. Die migrationspolitische Sprecherin der Fraktion die LINKE, Gökay Akbulut sagt dazu: „In den ‚Infopoints‘ sollen Flüchtlinge Informationen über die rechtlichen Grundlagen und den Ablauf eines Asylverfahrens erhalten. Es ist wichtig, dass diese Leistung unabhängig von den Asylbehörden erfolgt. Dass das EASO und damit auch das BAMF an diesen ‚Infopoints‘ beteiligt sind, ist ungeheuerlich. So könnte eine BAMF-Mitarbeiterin beispielsweise Fragen eines Flüchtlings beantworten, die ihm später als Entscheiderin im Asylverfahren gegenübersitzt. Beim Einsatz in den Hotspots überschreitet das EASO regelmäßig seine Kompetenzen, in dem es nicht nur unterstützend tätig wird, sondern auch Einfluss auf das Ergebnis von Asylverfahren nimmt.“