Überlebende des am 14. Juni im griechischen Hoheitsgewässer gesunkenen Boots mit Schutzsuchenden machen SZ-Recherchen zufolge den griechischen Behörden einhellig den Vorwurf, das Boot durch ein Schleppmanöver zum Kentern gebracht zu haben. Die etwa über 100 Überlebenden des mit bis zu 750 Personen besetzten Bootes befinden sich in einem Lager außerhalb von Athen.
„Das war Absicht“
Ein syrischer Flüchtling erklärte gegenüber der SZ: „Das Boot wäre ohne die griechische Küstenwache nicht gesunken.“ Er wirft der Küstenwache vor, das Boot mit Absicht zum Sinken gebracht zu haben, alle Überlebenden im Lager Malakasa seien davon überzeugt. Das Boot sei bereits sechs Tage unterwegs gewesen.
4.000 Dollar für die Überfahrt
Ein Gesprächspartner der SZ gab an, er habe 4.000 Dollar für einen Platz auf dem Boot bezahlt. Das Boot sei aber wider den Angaben der Schleuser massiv überladen gewesen. Die neun ägyptischen Staatsangehörigen, die festgenommen worden seien, seien ebenfalls Schutzsuchende, die die Überfahrt gratis erhalten hätten, da sie Nahrung und Wasser verteilten.
Nach zwei Tagen seien Wasser und das Essen ausgegangen. Der Motor sei auch immer wieder ausgefallen. Bereits fünf Personen seien aufgrund von Dehydrierung und Hitze gestorben. Am letzten Tag fiel der Motor komplett aus. Dies widerspricht der Behauptung der griechischen Behörden, das Schiff habe Kurs auf Italien genommen, und wird von Navigationsdaten und Luftaufnahmen gestützt, die zeigen, dass das Schiff sich am letzten Tag gar nicht mehr bewegt habe. Damit bricht eine weitere Falschbehauptung der griechischen Behörden in sich zusammen, nämlich, dass das Boot die Hilfe abgelehnt hätte, weil die Schutzsuchenden nach Italien wollten. Der Überlebende sagte: „Wir baten um Hilfe, von welchem Land auch immer.“
Zwei Containerschiffe hätten die Menschen mit Paketen mit Wasser versorgt. Allerdings war es so wenig, dass die verzweifelten Menschen um das Wasser kämpften. Es sei am letzten Tag mehr als offensichtlich gewesen sein, dass das Boot Hilfe brauchte. Am Abend des Tags vor der Katastrophe erreichte die griechische Küstenwache das Schiff. Die Besatzung des Schiffs wird übereinstimmend als uniformiert, teilweise vermummt, teilweise in Zivil beschrieben. Es sei ein Seil am Schiff befestigt worden, und man habe versucht, das Schiff aus der Such-Rettungszone Griechenlands herauszuschleppen. Dabei handelte es sich um einen illegalen Pushback. Die griechische Küstenwache ist für diese Praxis bereits berüchtigt.
Küstenwache schaute beim Ertrinken zu
Das Seil sei gerissen, die Küstenwache brachte ein neues Seil an, versuchte das Schiff zu drehen und brachte es dabei zum Kentern. Während die Männer, die oben auf dem Schiff ausharrten, ins Wasser sprangen, hatten insbesondere die Frauen und Kinder im Bauch des Schiffs keine Überlebenschance. Der Überlebende berichtete, dass die Küstenwache etwa einen Kilometer auf Distanz zum sinkenden Schiff gegangen sei, statt mit der Rettung zu beginnen. 15 bis 20 Minuten soll die Küstenwache einfach nur zugesehen haben. Erst dann habe sie sich wieder mit kleinen Booten genähert. Zu diesem Zeitpunkt war es die Mehrheit der Menschen bereits zu spät. Nur die Menschen, die kräftig genug gewesen seien, auf die Küstenwache zuzuschwimmen, konnten gerettet werden.
Die SZ berichtet, dass etliche andere Überlebende den Hergang auf ähnliche Art und Weise schilderten und immer wieder sogar „blau“ als die Farbe des Seils benannten.
„Das Mittelmeer ist kein Friedhof, sondern ein Tatort“
Über 180 Menschenrechtsorganisationen und Initiativen fordern zusammen mit Tima Kurdi, der Tante von Alan Kurdî, die Aufklärung der Geschehnisse vor der griechischen Küste. Im Aufruf heißt es: „Am 14. Juni 2023 tötete das europäische Grenzregime erneut Menschen, die von ihrem Recht auf Schutz Gebrauch machten. Wir sind erschüttert! Und wir stehen in Solidarität mit allen Überlebenden und mit den Familien und Freund:innen der Verstorbenen. Wir drücken unser tiefes Beileid und unsere Trauer aus.“
Die Briefschreiber:innen fragen nach dem Schleppmanöver der griechischen Küstenwache und ob es sich um einen Versuch des Pushbacks handelte. Auch stellen sie die Frage, warum weder die griechische Küstenwache noch die italienischen oder maltesischen Behörden früher eingegriffen haben, obwohl sie mindestens zwölf Stunden zuvor alarmiert worden waren.
„Hört auf Menschen, auf der Flucht umzubringen“
Sie klagen eine Praxis der Straflosigkeit von illegalen flüchtlingsfeindlichen Praktiken an der EU-Außengrenze als Ursache für das Sterben an: „Aktivist:innen und Organisationen prangern systematische Push- und Pullbacks, Verzögerungen und Unterlassungen von Rettungen, die Kriminalisierung von zivilen Such- und Rettungeinsätzen und die Zusammenarbeit mit nicht-sicheren Ländern zur Externalisierung europäischer Grenzen und zur Durchführung von Abschiebungen an. Die europäische Migrations- und Abschottungspolitik verursacht physische und psychische Gewalt, Inhaftierung und Tod. Hört auf, euch aus der Verantwortung zu stehlen – hört auf, Menschen auf der Flucht umzubringen!“
Tima Kurdî: „Schweigt nicht, erhebt eure Stimme auch für Alan Kurdî“
Seit 2013 sind mindestens 27.047 Tote im Mittelmeer zu beklagen. In dem offenen Brief ergreift auch Tima Kurdî, die Tante des im Mittelmeer ertrunkenen jungen Alan Kurdî das Wort und sagt: „Dieser Schiffbruch bringt meinen Schmerz zurück, unseren Schmerz. Mein Herz ist gebrochen. Ich bin untröstlich über all die unschuldigen Seelen, die wir verloren haben und die nicht nur eine Zahl auf dieser Welt sind. ‚Nie wieder‘ haben wir 2015 gehört, ich habe es unzählige Male gehört. Und was hat sich geändert? Wie viele unschuldige Seelen sind seither auf See verloren gegangen? Ich möchte euch an den 2. September 2015 zurückerinnern, als ihr alle das Bild meines Neffen, des zweijährigen Babys, am türkischen Strand gesehen habt. Was habt ihr gefühlt, als ihr das Bild gesehen habt? Was habt ihr gesagt, was habt ihr gemacht? Ich, als ich hörte, dass mein Neffe ertrunken ist, bin auf den Boden gefallen und habe so laut geschrien, wie ich konnte, weil ich wollte, dass die Welt mich hört! Warum sie? Warum jetzt? Und wer sind die Nächsten? Seitdem habe ich beschlossen, meine Stimme zu erheben und mich für alle einzusetzen, die nicht gehört werden. Vor allem für meinen Neffen, den Jungen am Strand, Alan Kurdi, dessen Stimme nie wieder gehört werden wird. Bitte schweigt nicht und schließt euch meiner Stimme an. Wir können die Augen nicht verschließen und den Menschen, die Schutz suchen, den Rücken zukehren. Öffnet euer Herz und nehmt die Menschen auf, die bis vor eure Haustür fliehen.“