„Wenn Navda sich etwas in den Kopf gesetzt hatte“

Navda Dinç war bereits als Kind eigenwillig. Sie traf ihre eigenen Entscheidungen und überzeugte ihre Eltern im Dialog. Eines Tages verließ sie die Istanbuler Wohnung und kehrte nicht mehr zurück.

Navda Dinç hat sich als Jugendliche der kurdischen Befreiungsbewegung angeschlossen und nannte sich fortan Bêrîtan Amed Evren. 16 Jahre später ist sie 2016 im Widerstand für Selbstbestimmung in Gever (tr. Yüksekova) ums Leben gekommen. Ihre Eltern haben jahrelang nach ihrem Leichnam gesucht und konnten ihre Tochter erst jetzt in Amed (Diyarbakir) beerdigen.

Navdas Mutter Sebahat Dinç hat ANF von ihrer Kindheit und ihren Jugendjahren erzählt. Die Familie stammt aus Amed und wohnte in Istanbul, als Navda eines Tages die Wohnung verließ und nicht mehr zurückkam. Erst Tage später ließ sie ihren Eltern ausrichten, wohin sie gegangen war. Bis dahin war die Familie sehr besorgt. Danach wussten die Eltern zumindest, dass ihr nichts zugestoßen war und Navda sich auf dem Weg befand, für den sie sich selbst entschieden hatte.

Bereits als Kind eigenwillig

Sebahat Dinç erzählt vor allem Anekdoten aus Navdas Kindheit, denn als sie ihr Elternhaus verließ, war sie erst 16 Jahre alt. Bereits als Kind war sie eigenwillig und ließ sich zu nichts zwingen, berichtet ihre Mutter. Als junges Mädchen begann sie zu arbeiten, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Sie hatte verschiedene Jobs, sowohl in Amed als auch in Istanbul. Gleichzeitig war sie politisch aktiv und engagierte sich nach Feierabend in der kurdischen Jugendbewegung.

„Eines Abends kam sie von der Arbeit nach Hause und sagte, dass sie an der Jugendarbeit teilnehmen möchte. Sie hatte sich bereits dafür entschieden, daher blieb uns nichts anderes übrig, als sie zu unterstützen. Meine einzige Sorge war, dass es für sie sehr anstrengend sein würde, neben der Arbeit auch noch politisch aktiv zu sein. Das sagte ich ihr. Sie antwortete, dass sie alles freiwillig täte und es auf keinen Fall zu anstrengend werden würde. In der Jugendarbeit machte sie große Fortschritte. An einem Winterabend saßen wir alle um den Ofen herum, es war sehr kalt. Navda kam nach Hause und hatte ganz offensichtlich etwas auf dem Herzen, aber sie sagte nichts und ging ständig rein und raus. Erst als ich nachfragte, rückte sie mit der Sprache heraus und sagte, dass sie einige Monate in einer anderen Stadt bleiben müsse. Ich sagte, dass sie gehen kann, obwohl es natürlich besser wäre, wenn sie hier vor unseren Augen bleiben würde. Darauf antwortete sie, dass sie sich bereits entschieden habe und gehen werde“, erzählt Sebahat Dinç.

Der Weg zur Guerilla

Wenn Navda sich etwas in den Kopf gesetzt habe, hätte sie immer Mittel und Wege gefunden, berichtet ihre Mutter weiter. Sie traf eine Entscheidung und überzeugte ihre Eltern im Gespräch. Von dem Tag, als sie sich auf den Weg in die Berge zur Guerilla machte, erzählt ihre Mutter: „Wir hatten unsere Wohnung neu gestrichen und haben alle bei verschiedenen Verwandten übernachtet. Ich ging zur Familie meines Onkels und sagte Navda, dass sie auch dorthin kommen soll. Sie sagte, dass sie vielleicht nicht kommen wird. Ich verstand das nicht und sagte ihr es noch einmal. Dann verließ ich die Wohnung. Navda kam an diesem Abend nicht, und auch nicht am nächsten Tag. Wir suchten sie überall, aber sie war nicht zu finden. Istanbul ist ja eine große Stadt und für Frauen gefährlich. Zuletzt gingen wir an einen Ort, an dem die Jugendlichen sich immer trafen, um dort nach Navda zu fragen. Die Jugendlichen meinten, dass sie sie gegen Abend noch gesehen hätten, aber nicht wüssten, was dann geschehen ist. Wir suchten sie bis zum Morgen, konnten sie jedoch nicht finden.“

Die Familie war in großer Sorge und befürchtete, dass ihr im quirligen Istanbul etwas zugestoßen sei. Drei Tage später kam ein Anruf, in dem den Eltern mitgeteilt wurde, dass Navda sich auf dem Weg in die Berge befindet. Sebahat Dinç sagt, dass sie die Entscheidung ihrer Tochter respektiert hat und ihr keine Steine in den Weg legen wollte.

Wir erfuhren aus dem Fernsehen von Navdas Tod“

Navda war 16 Jahre bei der Guerilla. Sie hielt sich in unterschiedlichen Gebieten auf und nahm zuletzt am Widerstand für Selbstbestimmung in Gever teil. Dort kämpfte sie mit großem Mut und kam schließlich bei einem Gefecht ums Leben. Die Leichen der gefallenen Kämpferinnen und Kämpfer der YPS und YPS-Jin wurden in jener Zeit anonym in Erzîrom begraben, die Angehörigen wurden nicht informiert. Darunter war auch der Leichnam von Navda.

Ihre Eltern machten unzählige Versuche, um den Leichnam zu finden und beerdigen zu können. Erst fünf Jahre später konnte Navdas Vater Ismet Dinç die sterblichen Überreste abholen und in Amed bestatten. Dafür musste er jahrelang kämpfen. Er fuhr etliche Male vergeblich nach Erzîrom, stellte Anträge, sprach bei den Behörden, der Polizei, der Jandarma, der Staatsanwaltschaft vor.

Von diesen fünf Jahren berichtet Ismet Dinç: „Wir erfuhren aus dem Fernsehen von Navdas Tod. In jener Zeit herrschten überall Ausgangssperren, wir konnten nirgendwo hinfahren. Ein paar Tage später fuhren wir nach Meletî, dort wurde uns gesagt, dass sie nicht da ist. Dann fuhren wir nach Erzîrom und wurden zurück nach Meletî geschickt. Überall hieß es: Hier ist sie nicht, fahrt woanders hin. Deshalb kamen wir auf den Gedanken, dass sie vielleicht nur verletzt und festgenommen worden ist.“

Bist du der Vater der Terroristin?“

Als Ismet Dinç gerade ein weiteres Mal die Gerichtsmedizin in Erzîrom verlassen wollte, wurde diese Hoffnung zunichte gemacht. Ein Mitarbeiter zog ihn zur Seite und sagte: „Du hast es nicht von mir, aber es sind etwa zwölf Leichen abgeholt und auf dem anonymen Friedhof begraben worden.“ Daraufhin startete der Vater weitere Versuche und konnte schließlich durchsetzen, dass ein DNA-Abgleich gemacht wird. Ihm wurde eine Blutprobe entnommen und gesagt, dass das Ergebnis erst in etwa sechs Wochen kommen würde. Tatsächlich musste die Familie zwei Jahre auf das Testergebnis warten. Innerhalb dieser zwei Jahre war Ismet Dinç etliche weitere Male in Erzîrom, einmal wurde er von den Behörden sogar nach Gever geschickt. Dort hieß es, dass die Akte im Durcheinander der innerstaatlichen Konflikte von 2016 verloren gegangen ist. Wenn Ismet Dinç die Behörden anrief, wurde er gefragt, ob er der Vater der Terroristin sei.

Der lange Kampf der Familie ist erst jetzt zu Ende gegangen. Am 11. November wurde der Leichnam freigegeben, exhumiert und in Amed-Lice beerdigt. Endlich, sagt Navdas Vater Ismet Dinç.