Was sagt Şengal zum Rückzug der Guerilla?

Nach der Besatzung von Efrîn droht der türkische Präsident Erdoğan nun auch mit dem Einmarsch in Şengal. Die ezidische Bevölkerung glaubt, die PKK sei nur ein Vorwand für den türkischen Staat, um die Region zu annektieren.

Am 3. August 2014 wurde das ezidische Volk mit dem Einfall des Islamischen Staates in Şengal einem weiteren Völkermord, dem 74. Ferman, überlassen. Weil die Peschmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) die Bevölkerung Şengals schutzlos der Barbarei des IS überließen und in einer Nacht-und Nebelaktion geflohen waren, fielen bereits am nächsten Morgen die IS-Schergen über das ezidische Volk her. Wer sich retten konnte, flüchtete in die Şengal-Berge. Auf dem Weg dorthin verdursteten unzählige Kinder und ältere Menschen. Wer es nicht mehr aus der Stadt schaffte, wurde vom IS bestialisch ermordet. Tausende junge ezidische Frauen wurden entführt und auf den Sklavenmärkten des IS verkauft, misshandelt und vergewaltigt. Der in den Bergen eingeschlossenen ezidischen Zivilbevölkerung eilte die Guerilla der PKK gemeinsam mit Kämpfer*innen der YPG/YPJ zur Hilfe und befreite Zehntausende Menschen vor dem sicheren Tod.

Das türkische Regime unter Federführung Erdoğans droht nach der Besatzung des nordsyrischen Kantons Efrîn erneut damit, in Şengal einzumarschieren. Seit einiger Zeit finden auch vermehrt Luftangriffe der türkischen Armee auf Gebiete Südkurdistans statt, einschließlich Şengals. Die PDK-Führung hat sich dazu bisher nicht geäußert. Die irakische Zentralregierung hat die Türkei jedoch vor einem Einmarsch ihrer Truppen in ihr Staatsgebiet gewarnt. Der Irak werde auf seinem Boden keine Präsenz irgendwelcher Kräfte zulassen, die Militäroperationen ausführten, hieß es.

Vergangene Woche hatte der Ko-Vorsitz des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) erklärt, dass die Bedingungen sich seit dem 3. August 2014 geändert hätten und die Ezid*innen nun als organisierte Gesellschaft selbst für die Sicherheit und die Verteidigung des Şengal und der Umgebung sorgten. Daher werde die Guerilla ihre Kräfte aus Şengal abziehen.

Unser Kollege Selami Aslan, Korrespondent der Nachrichtenagentur MA und derzeit in Südkurdistan, hat mit Bewohner*innen von Şengal über die Drohungen Erdoğans und den Abzug der kurdischen Guerilla gesprochen.

‚Beabsichtigt wird ein weiterer Völkermord und die Annektierung von Şengal‘

Die Ezid*innen empfinden tiefe Dankbarkeit für diejenigen, die sie vor den Massakern des IS gerettet haben. Sie glauben, dass die Präsenz von Guerillakämpfer*innen der HPG und YJA Star nicht der Grund dafür sei, im Şengal einzumarschieren. Vielmehr beabsichtige die Türkei mit osmanischer Mentalität einen weiteren Völkermord an dem ezidischen Volk und eine Annexion Şengals.

‚Seit dem Osmanischen Reich hat sich nichts geändert‘

Elyas Qasim Çûkê (47), Mitglied des demokratischen Selbstverwaltungsrates von Şengal sagt, dass die Drohungen Erdogans nichts Neues seien. „Alle 74 Ferman an dem ezidischen Volk gingen von den Vorfahren Erdoğans, den Osmanen, aus. Deshalb ist es für uns nicht neu. Auch in Cizîra Botan und ganz Kurdistan wurden Ferman für Völkermorde erlassen. Dass der IS von ihnen geschaffen wurde, weiß die ganze Welt“.

‚Wir befinden uns auf einer Stufe, auf der wir kämpfen können‘

Çûkê betont, dass sich die Ezid*innen verändert haben und sich den Angriffen nicht beugen werden. „Bevor Erdoğan Drohungen gegen uns ausspricht, sollte er wissen, dass wir nicht mehr die Eziden sind, die wir einst vor dem Ferman waren. Wir kennen unsere Geschichte. Unserer historischen Realität sind wir uns bewusst. Wir sind ein uraltes Volk, das seine politische und militärische Organisierung vollzogen hat und befinden uns auf einem Niveau, auf dem wir kämpfen können, anstatt uns den Ferman zu beugen. Erdoğans Problem sind außerdem nicht nur die Ezid*innen, sondern alle Kurd*innen.“

‚Ihren Rückzug bedauern wir, aber…‘

Çûkê sagt, dass sie die Entscheidung zum Rückzug der Guerilla aus dem Şengal bedauern, aber die Ideen des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, bereits überall in der ezidischen Heimat tief verwurzelt seien. „Die Freiheitskämpfer*innen verteidigen überall diejenigen Völker, die unterdrückt werden. Das ist das, was wir von ihnen gelernt haben. Trotz Zehntausender Soldaten und Peschmerga hat man uns alleine gelassen und ist geflohen. Der IS hat einen großen Völkermord begangen. Es war die Freiheitsguerilla, die uns zur Hilfe eilte und uns rettete. Eine Bewegung anzugreifen, die der Hoffnungsträger ganzer Völker ist, ist für mich eine der größten Sünden. So denken wir. Heute mögen sie Şengal verlassen, aber ihre Ideen sind mit uns. Auch wenn wir ihren Rückzug bedauern, so sind die Ideen Öcalans jetzt in Êzidxan.“

‚In Şengal keimen ihre Ideen‘

Nach Meinung von Evîn Qasim (20), Mitglied im Frauenrat Sinûnê, steckt hinter den Drohungen Erdoğans die Absicht, das ezidische und das gesamte kurdische Volk auszulöschen. „Ihr Rückzug ändert nichts daran, dass wir uns mit ihren Ideen, ihrem Geist und ihrem Glauben identifizieren. Überall in Şengal keimen die Ideen der Guerilla. Insbesondere in der Organisierung der ezidischen Frauen haben sie Pionierarbeit geleistet. Wir werden ihnen immer dankbar sein.“

‚Wir haben ihnen unser Wort gegeben: Wir werden eine Einheit‘

Salim Sedûn Hesen (60) vom Glaubenskomitee des Rates in Sinûnê sagt, die osmanische Tradition bilde die Grundlage für Erdoğans Drohungen gegen Şengal. Er kritisiert, dass die internationale Öffentlichkeit angesichts dessen weiterhin schweige. Die Bewohner*innen Şengals hätten der Guerilla das Versprechen gegeben, eine Einheit zu bilden. Dafür würden sie alles tun, so der 60-Jährige.

‚Wie Efrîn wollen sie Şengal besetzen‘

„Wir sind nicht besorgt wegen der Drohungen Erdoğans, denn wir haben jetzt eine militärische und organisierte Kraft, die bereit ist zu kämpfen“, sind die Worte des Ko-Vorsitzenden des Rates von Borik, Feysel Reşîd. Auch er betont, dass Erdoğan die Absicht hege, Şengal wie Efrîn zu besetzen.

„Als Grund für die Drohungen werden zwar die Guerillakämpfer*innen der HPG und YJA Star genannt, doch steckt dahinter der Plan, Şengal zu besetzen. Das, was sie in Efrîn gemacht haben, wollen sie auch hier tun. Wir sind uns definitiv im Klaren darüber, dass jeder Angriff gegen Şengal auf die traditionelle Ferman-Mentalität in Bezug auf die Ezid*innen zurückzuführen ist. Die Guerilla kam, um uns vor dem Genozid zu retten und hat uns große Hilfe bei unserer eigenen Organisierung geleistet. Sie werden immer in unseren Herzen sein.“