Tagebuch aus dem Widerstand von Avaşîn – Teil 2

„Nicht ohne Grund wandte sich der Feind gegen Avaşîn. Die türkische Armee hatte hier schwere historische Niederlagen einstecken müssen – ob durch das Sturmbataillon oder die ARGK. Technische Überlegenheit nutzte nichts.“

Die von der türkischen Armee gestartete Invasion in den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten wird von der Guerilla mit einer revolutionären Offensive beantwortet. Wir dokumentieren Tagebucheintragungen aus den ersten Tagen des Widerstands.

26. April 2021 – Dritter Tag des Widerstands

Nicht ohne Grund wandte sich der Feind gegen Avaşîn. Die türkische Armee hatte in dieser Region schwere historische Niederlagen einstecken müssen – ob durch das Sturmbataillon (tr. „Kasırga Taburu“) oder die Guerillakämpfer:innen der ARGK. Tausende Verluste hatten sie hier zu beklagen, Hubschrauber wurden in diesem Gebiet abgeschossen, die gesamte technische Überlegenheit nutzte dem Feind nichts. Alle Anstrengungen der Armee blieben erfolglos. Die Guerilla nahm in dieser Region den Invasoren die meisten Waffen ab. Es handelt sich um unzählige Waffen. Avaşîn liegt ihnen schwer im Magen. So sollte es auch sein!

Etwa fünfzehn Tage vor der Operation fanden die Plattformen der mobilen Einheiten in der Region statt. Die Freund:innen gaben ihr Wort, die türkische Armee im Frühjahr in den Zagros-Bergen zu vernichten. Wie der Freund Serhat, der den Widerstand von Mamreşo anführte, zu sagen pflegte: „Wir haben sie gesucht, aber sie liefen uns vor die Füße.“ Jetzt war die Zeit der Praxis gekommen und die gemachten Versprechen sollten eingehalten werden.

Die Infiltration einer türkischen Stellung im Gebiet Şûkê stellte den Start der Aktionen dar, die im Rahmen der Offensive „Falken vom Zagros“ stattfinden sollten. Bei dieser Aktion drangen die Freund:innen mittels der berühmten Infiltrierungstaktik der Apoisten in die Stellungen des Feindes ein, bestraften vier Eindringlinge und beschlagnahmten alle ihre Waffen. Die Aktion von Şûkê war eines der besten Beispiele für den apoistischen Geist, den Mut und die Entschlossenheit, der Invasion niemals nachzugegeben.

Einer der Freunde, die an der Aktion teilnahmen, war Şerker Arap. Er stammt ursprünglich aus Minbic. Als wir uns die Aufnahmen der Aktion ansahen und die Rufe von Şerker hörten, als er den Stift der Granate zog und sie auf eine feindliche Stellung warf, lachten wir alle auf, waren aber im Grunde tief beeindruckt. Vor allem dieses Gefühl, unsere gefallenen Freund:innen gerächt zu haben, kann während der Aktionen ganz unterschiedliche Emotionen im Menschen erzeugen. Das Echo der Wut, die in Şerkers Aufschrei widerhallte, als er die Bombe warf, war ein Indiz dafür: Die apoistische Bewegung ist eine Rachebewegung. Wenn das Zagros-Gebirge die Wiege der Menschheit ist, sollte es auch der Ort der Rache für die Taten derjenigen sein, die keinen Anteil an der Menschheit haben.

Später sollte der Kommandant Amed Malazgirt, der die Offensive anführt, allen teilnehmenden Freund:innen über Funk gratulieren, ihnen die Stirn küssen und jedem eine Pistole schenken.

Zeit des Tunnelkriegs - 28. April 2021

Der Widerstand in den Gipfelstellungen auf dem Girê Munzur und Şehîd Serdar in den Gebieten Mamreşo und Mervanos verleiht dem Befreiungskampf in Kurdistan eine neue Dimension. Womöglich ist es das erste Mal, dass die Guerilla auf Grundlage der Umstrukturierung tagelang Widerstand in den Kriegstunneln leistet, und das ohne Verluste. Schon vor Beginn der Operation hatten sich die Freund:innen monatelang auf einen möglichen Angriff vorbereitet. Sie waren zum Sieg im Tunnelkrieg entschlossen. Die türkischen Soldaten zündeten tagtäglich immer wieder an den Eingängen Sprengsätze, benutzten Giftgas und schossen mit Raketen (B7) und Granatwerfern. Aber es gelang ihnen nicht, Ergebnisse zu erzielen. Trotz aller Technik, die der Feind in den Kriegstunneln einsetzt, treffen die Freund:innen die Soldaten, die sich an den Eingängen versammeln, mit Sprengsätzen und ihren Kalaschnikows. Die Tunnel, welche die Freund:innen in jahrelanger mühseliger Arbeit angelegt haben – eine Aufgabe, die mit dem Ausstechen eines Brunnens mit einer Nadelspitze verglichen werden kann, sind zu den deutlichsten Beispielen des mächtigen Widerstands in Kurdistan geworden. Jahrelange harte Arbeit, jahrelange Mühe, Schweiß und Blutvergießen waren nicht umsonst. Es sind Orte und Momente aus der Summe von allem, an denen der unüberwindbare apoistische Wille, der Widerstand und die Ablehnung der Kapitulation auf die Bühne der Geschichte treten. Was auch immer kommen möge, der türkische Staat wurde in diesen Tunneln besiegt, seine Technik und Technologie zerschellten an den Wänden dieser Tunnel und zwangen ihn zur Umkehr. Diejenigen, die sich widersetzen, sehen das Licht am Ende des Tunnels und kämpfen, um zu diesem Licht zu gelangen. Diese Tunnel werden Geschichte schreiben und das Licht am Ende dieser Tunnel wird sich von Avaşîn auf ganz Kurdistan ausbreiten.

Die ersten Gefallenen des Widerstands. Dilşêr, Ekin, Asya und Çiyager

30. April 2021 – Siebter Tag des Widerstands

Dort, wo auch immer das Geräusch des azurblauen Flusses Avaşîn zu hören ist, finden erbitterte Kämpfe statt. Avaşîn ist jetzt das Schlachtfeld zwischen Tapferkeit und Feigheit. Sein Klang kann nicht vom Klang der Kugeln oder der Explosionen, die durch die Täler hallen, übertönt werden. „So lange Wasser fließt, wird die Guerilla weiterhin in Avaşîn leben und kämpfen“, hatte jemand vor Monaten gesagt. Weder das Wasser kann gestoppt werden noch die Guerilla. Avaşîn erhebt sich allem zum Trotz, um sich gegen die Tyrannei der Unterdrücker zu stellen. Der Avaşîn ist zu einem Genossen der Guerilla geworden, er fließt mit ihr, kämpft mit ihr und schließt diejenigen in die Arme, die für ihn sterben.

Die Stellungen und Tunnel sind nicht die einzigen Fronten im seit dem 23. April andauernden Widerstand. Die Freund:innen sind auch im Gelände von Mervanos bis Şûkê und Mamreşo unterwegs und führen Aktionen durch, um die Kämpfer:innen in den Tunneln zu entlasten.

Şehîd Dilşêr Egîd: „Avaşîn machte mich zu einem Revolutionär“

Dilşêr Egîd war aufgebrochen, um gegen die am 23. April in Mamreşo gestartete Operation vorzugehen und die Freund:innen zu unterstützen. Er zögerte dabei keinen Augenblick. Er fiel bei einem Luftangriff und wurde damit zum ersten Gefallenen der Offensive „Falken vom Zagros“ in Avaşîn. Heval Dilşêr gehörte einer mit schweren Waffen ausgestatteten Einheit an und stammte ursprünglich aus Hesekê. Er war ein Freund, hinter dessen Stille sich immer ein großes Bewusstsein und Herz verborgen hatte. Er sprach nicht viel, aber wenn er sprach, dann waren seine Sätze voller Wahrheit. Sein Geist war immer voll und in Bewegung, aber im Leben war er sehr bescheiden. Obwohl Heval Dilşêr aufgrund von körperlichen Schwierigkeiten in einem harten Terrain wie dem Zagros-Gebirge nicht leben, geschweige denn kämpfen konnte, wollte er sich nicht von der Region trennen. Seine körperlichen Beschwerden hinderten ihn nicht daran, seinen revolutionären Weg zu gehen. So entschlossen er war, in diesen Bergen zu kämpfen, so entschlossen war er, gegen die Mamreşo-Operation zu intervenieren. Als er den Freund:innen von der Presseabteilung ein Interview zu Avaşîn gab, erklärte er: „So wie sich eine Mutter um ihr Kind kümmert, so zog mich Avaşîn auf und machte mich zu einem Revolutionär.“

Şehîd Ekin Tilora: Sie führte eine Armee in den Krieg gegen den Feind

Dann gab es noch die Freundin Ekin Tilora. In Avaşîn kennt jeder den Namen ihres Dorfes, also Tilora. Aufgrund ihrer Verbundenheit zu ihrem Dorf und ihrem Patriotismus, hatte Ekin den Namen Tilora zum Wegweiser für ihre in der PKK neu geschaffenen Persönlichkeit gemacht. Sie war 2018 nach Avaşîn gekommen und hatte trotz aller Schwierigkeiten des Zagros-Gebirges ihren pausenlosen revolutionären Weg auf den Gipfeln von Mervanos fortgeführt und Großes geleistet. Ekin wurde Kommandantin der autonomen Fraueneinheiten. Sie war ein Symbol für Mut, Wut und Opferbereitschaft im Krieg sowie der Einfachheit und Natürlichkeit einer Guerillakämpferin. Weit entfernt von all der Hässlichkeit in dieser Welt war sie nie in den Schmutz und die Verkommenheit der kapitalistischen Moderne verstrickt. Sie war so rein wie das Land, aus dem sie kam, und vor allem war sie authentisch. Einerseits war sie noch das Kind, das in seinem Dorf Tilora in Gever lebt; andererseits war sie eine Kommandantin, die ehrgeizig genug war, eine Armee voller Wut und Entschlossenheit gegen den Feind zu führen. Sie wusste, wie man dies alles gleichzeitig lebt. Sie war so universalistisch wie sie auch mit Kurdistan verbunden war.

Am 23. April 2021, als die türkische Besatzerarmee ihre Operation in der Gegend von Mervanos startete und Truppen absetzte, war Ekin Tilora eine der Freund:innen, die als erste in ihre Stellung eilten, um gegen den Feind zuzuschlagen. Auf jedem Zentimeter dieser Berge waren Spuren ihrer Arbeit. Sie kannte die Pfade, denn sie war sie schon dutzende Male gegangen und hatte daran gearbeitet, diese Region zu verteidigen. Die Gipfel wurden mit dem Einsatz der Guerilla ausgebaut und würden nicht so leicht an den Feind fallen. Ekin fiel, als sie einen Gipfel mit einem Luftabwehrgeschütz verteidigte und die türkische Armee daran hinderte, Truppen abzusetzen. Sie fiel gemeinsam mit der Freundin Asya Kerim. Die beiden waren die ersten weiblichen Gefallenen der Guerillaoffensive Bazên Zagrosê.

Asya Kerim: „Sie leistete Schulter an Schulter mit den Bergen Widerstand“

Asya Kerim stammte ursprünglich aus einer patriotischen Familie in Sêrt (Siirt). Sie lernte den Patriotismus bei ihrer Zwangsmigration aus Botan in die Metropolen der Türkei kennen. 2014 schloss sie sich als junge Frau dem Freiheitskampf in Bursa an.

Asya arbeitete in verschiedenen Kampfgebieten und kam 2018 in die Region Avaşîn. Hier kämpfte sie als Teil einer autonomen Einheit der Frauenguerilla auf den Gipfeln in Mervanos, wo sie sich schließlich auch der Karawane der Gefallenen anschloss. Asya war in erster Linie eine Genossin. Sie war eine Freundin, die sensibel für Frauensolidarität war, auf die sie sich immer fokussierte. Sie war in der Lage, sich auf ihrem revolutionären Weg jeden Tag weiterzuentwickeln. Asya hatte ihren Weg als Guerillakämpferin im Zagros begonnen und lernte in dieser harten Umgebung den Kampf. Wie bei allen Kämpfer:innen waren es vor allem die Berge, die sie lehrten und ihr die Wahrheit zeigten. Deshalb war sie entschlossen, die Berge zu verteidigen. So wie ihr Avaşîn das Laufen beigebracht hat, war sie nun bereit, Schulter an Schulter mit den Bergen zu gehen und Widerstand zu leisten. Sie gab als Schutzschild dieser unüberwindbaren Berge ihr Leben.

Çiyager Cizîrî: Widerstandsgeschichte von Cûdî bis Çarçella

Çiyager Cizîrî war einer von denjenigen, deren Name ihren Weg vorzeichnet. Çiyager bedeutet, der, der durch die Berge wandert, der die Berge sucht, der die Berge versteht. Kann ein Name einem Guerillakämpfer besser gerecht werden als dieser? Jeder in Avaşîn kennt Çiyager. Wenn man auf diesem Boden Guerillakämpfer:in ist, dann hat man Çiyager sicher einmal in diesen Bergen, auf den Almen oder den Gipfeln getroffen. Wenn es ein Problem gab, wenn etwas fehlte oder man sich abmühte, war Çiyager der Erste, der einem zur Hilfe eilte. Wenn man sich über etwas ärgerte, dann war es Çiyager, der dir wieder ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Er war ein Guerillakämpfer, den jeder suchte, dessen Begleiter jeder sein wollte. Er war in verschiedenen Kampfgebieten aktiv, aber seine Herkunftsregion Botan hat er immer in seinem Wesen und in seiner Sprache bewahrt. Er bewegte sich wie jemand aus Botan in den Zagros-Bergen und schrieb von Cûdî bis Çarçella Widerstandsgeschichte.

Çiyager war ein Kämpfer. Sorgen oder Zweifel hegte er nicht – weder in Bezug auf den Krieg noch auf sein Leben. Am 23. April 2021, als die türkische Invasionsarmee die Operation in Avaşîn startete, war Ciyager einer der Ersten, der seine Waffe ergriff.  Er brach auf, um zu verhindern, dass sich die türkischen Soldaten im Gebiet Şehîd Dilgeş festsetzen, und kämpfte bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Blutstropfen, um die Besatzer aufzuhalten. So fügte er seiner von Botan bis Zagros reichenden Widerstandsgeschichte eine weitere Seite hinzu.

Dies waren die ersten Gefallenen des Widerstands. Ihren Weggefährt:innen hinterließen sie ihre Leidenschaft und ihre Liebe für das Leben, die so groß war, dass sie dafür zu sterben bereit waren.