Mit der türkisch-dschihadistischen Invasion in Nord- und Ostsyrien und den Massakern an der Zivilbevölkerung wurde in Südkurdistan eine Kampagne eingeleitet, die zum Boykott, Sanktionen und Desinvestitionen gegen die Türkei aufruft. Die Bevölkerung beteiligt sich aktiv am Boykott türkischer Waren, da im Angriffskrieg gegen die selbstverwalteten Gebiete in Rojava auch kurdische Konsumkraft genutzt wird. Nach anderen erfolgreichen Boykott-Kampagnen ist längst klar, dass die wirksamste Waffe gegen das Regime in Ankara wirtschaftliche Sanktionen sind.
In Südkurdistan hat sich der Boykott von türkischen Produkten und Reisen in die Türkei rasend schnell ausgebreitet. Die Regierung Erdoğans und einige südkurdische Unternehmen, die in wirtschaftlicher Abhängigkeit von der Türkei sind, witterten bereits früh die Gefahren, die der Boykott für sie bereithält. Beide Seiten sind bemüht, die Bevölkerung davon abzubringen, sich an der Kampagne zu beteiligen. Bahtiyar Mele Ehmed, Sprecher der südkurdischen Import- und Exportunion, unterstützt den Boykott. „Solange unser Volk diese Haltung beibehält, werden wir sowohl als Land als auch als Nation siegen. Wir werden unsere Probleme überwinden und mit den Alternativen, die uns einheimische Waren von besserer Qualität bieten, unsere eigene Industrie ausbauen“, erklärte Ehmed.
Umfassender Boykott hätte schwerwiegende Folgen für die Türkei
Jeder Boykott von Waren eines Landes werde zweifellos schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft des Exportlandes haben, erklärt Ehmed. „Das gilt speziell für ein Land wie die Türkei, deren Ökonomie vom Export abhängig ist. Die Türkei führt neben Russland und den EU-Staaten ihre Waren insbesondere nach Südkurdistan aus. Der Boykott hier hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft in unserem Nachbarland. Der Export türkischer Produkte in unsere Region ist bereits stark gesunken, aber auch einige EU-Staaten haben Handelsbeschränkungen im Rahmen von Embargos gegen Produkte aus der Türkei verhängt. Parallel dazu werden in diesen Ländern türkische Produkte auch von Teilen der Gesellschaft boykottiert. Das reicht schon aus, um die türkische Wirtschaft periodisch zu beeinträchtigen. Das wichtige ist allerdings, dass ein umfassender Boykott von Produkten aus der Türkei nicht nur ökonomische Auswirkungen mit sich bringen würde, sondern auch politische und militärische Folgen hätte“, meint Ehmed.
Ehmed erinnert an die Auswirkungen, die das von Russland erteilte Importverbot für Tomaten, eines der wichtigsten türkischen Exportprodukte, mit sich brachten. Mit dem Embargo hatte Russland 2016 auf den Abschuss eines Militärjets reagiert. Auch Charterflüge in das bei Russen beliebte Reiseland wurden eingestellt. Dies traf den Tourismus in der Türkei hart. Erst nach einer Entschuldigung Erdoğans im Juni 2016 normalisierte sich das Verhältnis wieder. „Damals fanden eine Reihe von Gesprächen zwischen diesen beiden Staatsführern statt, um das Tomatenproblem zu lösen. Wenn allein schon der Ausfuhrstopp von Tomaten der Türkei derartige Probleme bereitet, lässt sich vorstellen, welche Auswirkungen ein Boykott aller Produkte hätte“, kommentiert der Ökonom.
Waren im Wert von acht Milliarden Euro passieren Grenze
Südkurdistan ist ein wichtiger Handelspartner für Türkei. Waren im Wert von rund acht Milliarden Euro passieren jährlich die Grenze in die Autonomieregion. Nicht alle Produkte stammen aus türkischer Produktion – auch Waren aus Deutschland und anderen EU-Ländern gelangen über die Türkei nach Südkurdistan.
„In Südkurdistan gibt es im Prinzip genug Alternativen. Ein Spaziergang durch unsere Märkte und Basare reicht völlig aus. Es gibt eine Fülle an Produkten aus dem arabischen und europäischen Raum. Als Import- und Exportunion pflegen wir zudem Wirtschaftsbeziehungen zu einer Reihe von Ländern wie beispielsweise Kanada und den USA. Erst vor wenigen Tagen haben wir mit Indonesien ein Abkommen mit einem Volumen von zehn Millionen Euro getroffen. Damit möchte ich auf unsere Möglichkeiten hinweisen, alternative Produkte und Waren auf unseren Markt zu bringen. Wir sind nicht auf den Handel mit der Türkei angewiesen. Zwar suchen wir noch nach Ausweichmöglichkeiten für einige Nahrungsmittel und Haushaltsgegenstände. Allerdings sind wir zuversichtlich und glauben daran, gute Lösungen zu finden. Daher ist es für die Bevölkerung ein leichtes, den Boykott türkischer Produkte aufrecht zu erhalten. Wir stehen den Menschen hier unter allen Umständen bei und sind bereit, alle ihre Bedürnisse zu erfüllen”, unterstreicht Ehmed.
Unternehmen propagieren bereits Nahrungsmittel-Engpässe
Vor allem Nahrungsmittel und Textilien bezieht Südkurdistan aus der Türkei. Würde der Handel leiden, wäre vor allem die türkische Textilindustrie betroffen. Denn Textilien lassen sich bereits aus anderen Erdteilen beschaffen – beispielsweise aus Europa und Asien, erklärt Ehmed.
Einige Branchen in der Türkei spüren bereits deutlich, dass die Nachfrage aus Südkurdistan nachgelassen hat. „Sie versuchen mittels Propaganda, dass Nahrungsmittel-Engpässe unmittelbar bevorstünden, Angst zu schüren“, erwähnt Ehmed. „Das sind Fantasievorstellungen, denen keine Beachtung geschenkt werden sollte. Diese Unternehmen wollen den hiesigen Konsumenten ihre Produkte faktisch aufzwingen. Darauf lassen wir uns nicht ein. Das sollte jeder wissen“, so Ehmed.