Seit dem 9. März 2021 sitzt Emine Şenyaşar zusammen mit ihrem Sohn Ferit jeden Tag vor dem Gerichtsgebäude in Riha (tr. Urfa), um die Bestrafung der Mörder ihres Ehemannes Hacı Esvet und ihrer Söhne Celal und Adil einzufordern. Die drei Männer waren 2018 wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bei einer Wahlkampftour des AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız von dessen bewaffneten Bodyguards und Verwandten getötet worden. Nur einer von 23 beteiligten Angreifern sitzt im Gefängnis. Das Verfahren wird verschleppt, die türkische Justiz zeigt kein Interesse an einer Aufklärung der Morde und Bestrafung der Täter. Stattdessen werden die Hinterbliebenen der Toten zu Opfern systematischer Repression. Fadıl Şenyaşar, ein weiterer Sohn von Emine Şenyaşar, überlebte den Lynchversuch und wurde zu 37 Jahren Haft wegen Mordes an einem der Angreifer verurteilt – der nachweislich von seinen eigenen Leuten erschossen wurde.
Heute konnte Emine Şenyaşar aufgrund von gesundheitlichen Problemen nicht vor das Gerichtsgebäude kommen. Ihr Sohn Ferit Şenyaşar machte sich alleine aus der Familienwohnung im 42 Kilometer entfernten Pirsûs (Suruç) auf den Weg in die Provinzhauptstadt Riha, um die seit 317 Tagen andauernde Mahnwache fortzusetzen. In der Region ist Schnee gefallen, die Straßen sind gefährlich. „Wir haben bereits mehrfach erklärt, dass wir unter allen Umständen hier vor dem Justizpalast bleiben werden, bis uns Gerechtigkeit widerfährt. Erst wenn das Recht umgesetzt wird, werden wir nach Hause gehen“, erklärte Ferit Şenyaşar und schrieb „317. Tag“ in den Schnee auf der Mauer vor dem Gerichtsgebäude. Daraufhin rückte die Polizei an und forderte, dass er den Schriftzug im Schnee lösche, weil das an öffentlichen Gebäuden verboten sei. Ferit Şenyaşar weigerte sich, woraufhin die Polizisten selbst über die Mauer wischten.
Emine und Ferit Şenyaşar sind bereits etliche Male während ihrer Mahnwache festgenommen worden. Gegen die siebzigjährige Emine wurde auf Betreiben von Innenminister Süleyman Soylu (AKP) und seines Parteikollegen Ibrahim Halil Yıldız ein Strafverfahren wegen Beleidigung eingeleitet, ihr drohen bis zu vier Jahre Haft.