„Ohne die Guerilla wäre das Ezidentum verloren gewesen“

Vor vier Jahren hat sich die Guerilla aus Şengal zurückgezogen. Die TAJÊ-Aktivistin Jaklin Hisên sagt, dass es die ezidische Gemeinschaft in Şengal ohne die Guerilla vermutlich nicht mehr geben würde.

Am 3. August 2014 hat der sogenannten IS („Islamischer Staat“) einen auf einen Genozid abzielenden Angriff im ezidischen Hauptsiedlungsgebiet Şengal im Nordirak begonnen. Die Menschen in Şengal bezeichnen diesen Angriff als „74. Ferman“. Für die Sicherheit der Region waren die PDK und die irakische Regierung verantwortlich. Als der Völkermord begann, zogen sich 12.000 Peschmerga der PDK und 7000 irakische Soldaten kampflos zurück. Zurück blieb eine zwölfköpfige Guerillagruppe, die Şengal gegen die Islamisten verteidigten.

Jaklin Hisên ist Mitglied der ezidischen Frauenbewegung TAJÊ (Tevgera Azadiya Jinên Êzidxanê) und erinnert an diese Zeit: „Şengal wurde zunächst von zwölf Guerillakämpfern verteidigt.“ Dieser Gruppe folgten später Hunderte weitere Kämpferinnen und Kämpfer, um die Bevölkerung zu schützen.

Vor vier Jahren erklärte die KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), dass die Bedingungen in Şengal sich geändert haben. Die ezidische Gemeinschaft sei inzwischen organisiert und in der Lage, aus eigener Kraft für ihre Sicherheit zu sorgen. Daher sei es an der Zeit, die Guerilla aus der Region abzuziehen.

Der Abzug erfolgte am 1. April 2018. Die Guerillakämpfer:innen verabschiedeten sich in Şengal und den umliegenden Bergen von der Bevölkerung. Im Rückblick sagt Jaklin Hisên: „Wäre die Guerilla nicht gewesen, würde es heute vielleicht gar keine Ezidinnen und Eziden mehr in Şengal geben.“

Hisên erklärt weiter: „Dank der Guerilla sind das Ezidentum und die Eziden in Şengal geblieben. Hinterher ist die Guerilla noch eine Weile in Şengal geblieben. In dieser Zeit wurde die Region vollständig vom IS befreit.“ Die Guerilla habe der Bevölkerung dazu verholfen, eigene politische, gesellschaftliche und militärische Strukturen aufzubauen: „Sie haben uns beigebracht, wie wir uns selbst verteidigen und uns als Gesellschaft und Glaubensgemeinschaft organisieren können. Dass es uns heute gibt, haben wir ihnen zu verdanken. Die Guerilla sah sich aus Gewissensgründen für diese Aufgabe verantwortlich und ist erst 2018 wieder zurück in die Berge gegangen, als in Şengal Stabilität hergestellt worden war. Wir vermissen die Guerilla auch heute noch. Das Zusammenleben mit ihr war eine Ehre für uns.“

Zur aktuellen Situation in Şengal erklärt Jaklin Hisên, dass die irakische Regierung eine Mauer an der Grenze nach Rojava errichtet: „Nach dem Ferman bestand eine enge Verbindung zwischen Şengal und Rojava. Wir haben viel Unterstützung aus Rojava bekommen. Unsere gesundheitliche Versorgung fand über Rojava statt. Für unseren Lebensunterhalt gab es Handelsbeziehungen mit Rojava. Während des Ferman waren uns alle Wege verschlossen, nur Rojava stand uns offen. Rojava hat einen großen Teil der Bevölkerung aufgenommen und versorgt. Dieser Weg wird uns jetzt versperrt. Außerdem ist eine Gemeinschaft mit den arabischen Dörfern entstanden. Wir schützen dieses Land gemeinsam. Jetzt wird Stacheldraht zwischen uns und den arabischen Dörfern gezogen. Das ezidische Volk wird von allen Seiten belagert und isoliert. Uns soll als Alternative nur noch Südkurdistan bleiben. Das lehnen wir ab. Niemand kann unseren Willen brechen.“