Nach den Festnahmen in Südkurdistan hat das Metro Center for Journalist Rights & Advocacy das Vorgehen der Behörden und die Gewalt der Sicherheitskräfte scharf kritisiert und die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Aktivisten und Journalisten gefordert. Laut der Organisation mit Sitz in Silêmanî, die sich für die Rechte von verfolgten und drangsalierten Medienschaffenden einsetzt, sollen sich derzeit mehr als hundert Personen in Gewahrsam befinden. Ein Abgeordneter der Gorran-Bewegung gab am Freitag die Zahl der in den vergangenen Tagen im Zusammenhang mit den Protesten festgenommenen Personen sogar mit 400 an.
Unter den Betroffenen befinden sich auch die ehemaligen Parlamentsabgeordneten der Gorran-Bewegung, Abdulla Mala Nuri und Sherko Hama Amin. Sie gehören dem zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss „Kongreya Dengê Nerazî“ (Kongress der unzufriedenen Stimmen) an und hatten den gestrigen Protest vor dem Sitz des Provinzrats mitorganisiert. Wie viele andere Personen waren sie noch im Vorfeld der Demonstration festgenommen worden. Auch etliche Journalistinnen und Journalisten, darunter der NRT-Reporter Karzan Tariq, befinden sich in Gewahrsam.
Proteste eskalieren, neun Tote
Seit dem 6. Dezember sind die Proteste in Südkurdistan eskaliert. In mehreren Städten wurden die Zentralen der Regierungsparteien PDK und YNK sowie Behörden angezündet oder beschädigt, laut Metro beträgt die Zahl mehr als 150. Die Sicherheitskräfte gehen mit großer Brutalität gegen die Demonstrierenden vor, die Proteste werden unter starkem Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und scharfer Munition aufgelöst. Seit dem 2. Dezember sind neun Menschen getötet worden. Acht der Todesfälle sind auf den Einsatz von Schusswaffen durch die Sicherheitskräfte zurückzuführen, zwei der getöteten Demonstranten waren minderjährig. Ein PDK-Peschmerga erlitt im Zuge der Proteste einen tödlichen Schlaganfall. Mehr als 120 Menschen wurden teils schwer verletzt.
Panzerwagen und Antiterroreinheiten
Am Freitag waren zur Durchsetzung eines zwei Tage zuvor erteilten Demonstrationsverbots vor allem in Silêmanî Antiterroreinheiten der Sicherheitskräfte mit gepanzerten Militärfahrzeugen auf zentralen Straßen und Plätzen aufgefahren. Der aus Südkurdistan stammende Journalist und Analyst Kamal Chomani schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter, dass die Peschmerga, die nun Demonstranten töten, unter anderem von Deutschland im Rahmen des Kampfes gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ ausgebildet und bewaffnet worden waren. „Die Waffen, die ihnen überlassen wurden, waren dafür bestimmt, die Bevölkerung zu schützen und nicht, gegen diese eingesetzt zu werden“, so Chomani.
Hintergrund der Proteste
Frustriert über die südkurdische Regionalregierung in Hewlêr kommt es seit Monaten zu Protesten, die immer wieder auf- und abflammen. Vor allem bei der jüngeren Generation, die Reformen, Mitbestimmung und Demokratie verlangt, macht sich zunehmend Resignation und Pessimismus breit. Der ökonomische Stillstand, die grassierende Jugendarbeitslosigkeit und die Allmacht der Clans der Familien Barzanî und Talabanî lässt junge Menschen verzweifeln. Die Regierung ist zu elementaren Dienstleistungen unfähig, Gehälter von Beamtinnen und Beamten werden seit Monaten wieder nicht oder nur gekürzt ausgezahlt, Universitätsabsolvent*innen haben keine Perspektive, regelmäßigen Strom oder eine gut funktionierende Wasserversorgung gibt es ohnehin nicht. Die Region importiert alles, produziert aber nichts, ist weitestgehend vom Regime in Ankara abhängig. Besatzungsbestrebungen und völkerrechtswidrige Angriffe der Türkei werden geduldet oder sogar unterstützt. Die Namen Barzanî und Talabanî prägen die Machtverhältnisse, und die sich in den vergangenen Jahren etablierte Vetternwirtschaft und Korruption wird immer sichtbarer. Jeglicher Widerstand gegen die Machtkonzentration der Clans wird niedergeschlagen.
Beamtenschaft leidet seit Jahren unter Clan-Korruption
Im April hatte die irakische Zentralregierung aufgehört, der südkurdischen Leitung ihren monatlichen Anteil aus dem Staatshaushalt zu überweisen, weil die PDK im Gegenzug nicht die vorgesehenen 250.000 Barrel Öl an Bagdad geliefert hatte. Hewlêr bevorzugt es, das Öl Südkurdistans unabhängig vom Irak zu exportieren, etwa an die Türkei. Dorthin liefert sie aktuell 450.000 Barrel pro Tag. Das Fehlen des Budgetanteils, der aktuell etwa 900 Milliarden Dinar (623 Millionen Euro) pro Monat entspricht, macht sich in der Autonomieregion vor allem bei den Beamten bemerkbar. Viele der Demonstrierenden sind öffentlich Beschäftigte, ein Großteil davon Lehrerinnen und Lehrer – Südkurdistan verfügt über eine große Beamtenschaft, rund eine Million der Fünf-Millionen-Einwohner-Region sind Staatsbedienstete. Sie müssen bereits seit Jahren immer wieder fehlende Löhne erdulden. Zum Unmut der Menschen kommt hinzu, dass in Südkurdistan in den vergangenen Monaten praktisch keine einzige wirksame Maßnahme gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie unternommen wurde, während die Schulen im neuen Bildungsjahr mit Verweis auf die Pandemie nicht eröffnet worden sind.
KCK: Forderungen der Massenproteste sind legitim
Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) wies am Donnerstag Behauptungen PDK-naher Medien zurück, dass sie hinter den Protesten stecke. „Wer diese Propaganda verbreitet, benutzt diese Argumente bewusst, um die inneren Spannungen zu verschärfen und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen“, betonte die KCK. Die Forderungen der Demonstranten seien legitim, doch Brandstiftungen an Parteigebäuden nützten nur den Feinden der Kurden, warnte die KCK zugleich vor möglichen Provokationen des türkischen Geheimdienstes MIT.