Lebenslange Haft gegen Mahmut Alinak gefordert

Ein Gericht in Qers hat die Anklage gegen den inhaftierten kurdischen Politiker und Schriftsteller Mahmut Alinak angenommen. Dem 68-Jährigen wird unter anderem seine Forderung vorgeworfen, Kurdisch als gleichwertig mit anderen Sprachen anzuerkennen.

Gegen den kurdischen Politiker, Rechtsanwalt und Schriftsteller Mahmut Alinak ist Anklage wegen Separatismusvorwürfen erhoben worden. Auf knapp 300 Seiten legt die Generalstaatsanwaltschaft von Kars (kurd. Qers) unter anderem die Forderung Alinaks, Kurdisch als gleichwertig mit anderen Sprachen anzuerkennen, und die Spende des Erlöses aus seinem Buch „Mehmet Tunç und Bêkes” an die Familie des 2016 in den Todeskellern von Cizîr (Cizre) ums Leben gekommenen Vorsitzenden des örtlichen Volksrates Mehmet Tunç als versuchte „Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates“ aus und fordert eine lebenslange Freiheitsstrafe gegen den 68 Jahre alten Politiker. Grundlage für die Anklage ist § 302 des türkischen Strafgesetzbuches. Er ist der schwerstwiegende des türkischen Gesetzbuches und steht immer im Zusammenhang mit Gewalttaten. Ins Rollen kam das Verfahren laut Staatsanwaltschaft aufgrund eines Beschwerdebriefs eines „verärgerten Bürgers“ an CIMER. Bei CIMER handelt es sich um einen Webdienst des Kommunikationszentrums des türkischen Präsidialamts, über den Bürger*innen Beschwerden, Nachrichten und Anfragen an den Präsidenten richten können. 2019 wurden fast 3,2 Millionen E-Mails an CIMER verschickt.

Warum die türkische Anklagebehörde in Qers auf Grundlage der Forderung, die Diskriminierung der Muttersprache von etwa 40 Millionen Kurden zu beenden, als Straftat, die angeblich darauf abzielt, „das Gebiet des Staates ganz oder teilweise der Hoheit eines ausländischen Staates zu unterwerfen, die Unabhängigkeit des Staates zu beeinträchtigen, die Einheit des Staates zu zerstören oder einen Teil des der Hoheit des Staates unterliegenden Gebietes von der Verwaltung des Staates abzutrennen“ wertet, erscheint zwar absurd, überrascht aber nicht. Da von einer unabhängigen Justiz in der Türkei schon lange keine Rede mehr sein kann, die autokratische Ideologie Erdoğans und seiner AKP mit dem Ausnahmezustand nach dem vermeintlichen Putschversuch vom Sommer 2016 in normalzustandliche Gesetze überführt wurden, lesen sich Anklageschriften wie die gegen Alinak wie eine kafkaeske Lektüre, die vor Augen führt, dass Gesetze in der Türkei lediglich Instrumente zur Rechtsverletzung sind.

Staatsanwalt erklärt HDK und DTK als illegal

So interpretiert die Generalstaatsanwaltschaft von Kars die Bereitschaft Mahmut Alinaks, als Schlichter einen Konflikt zwischen zwei zerstrittenen Familien beizulegen, als einen Versuch, „die Verbindung zwischen Bürgern und Gerichten zu kappen und das bestehende Justizsystem zu beseitigen, um dem Land das Prinzip der KCK aufzuoktroyieren. Somit sollte die KCK Ansehen in der Gesellschaft erlangen.“ Der Demokratische Kongress der Völker (HDK), aus dem die HDP vorging, wird wie der Demokratische Gesellschaftskongress (DTK) für illegal erklärt. Entsprechend werden Alinaks Aktivitäten für beide zivilgesellschaftliche Organisationen – die in der Türkei explizit nicht verboten sind – als „Unterstützung des Terrors“ gewertet.

Ziviler Ungehorsam gegen Arbeitslosigkeit: „Volksverhetzung“

Eine Aktion des zivilen Ungehorsams von Alinak, die sich „Mahnwache für ein menschliches Leben“ nannte, legt die Behörde ebenfalls als Straftat aus. „Unter der Etikette einer angeblichen Mahnwache rief der Angeklagte über die sozialen Medien seine Anhänger landesweit dazu auf, täglich um 13 Uhr für zwei Minuten stillzustehen und mit diesen Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen angebliche Arbeitslosigkeit, Überteuerung, Steuererhöhungen und Unterdrückung zu protestieren.“ Damit, und mit Kritik gegen die im vergangenen Oktober gestartete Invasion der türkischen Armee in Nordsyrien soll Alinak „das Volk offen zu Hass und Feindschaft aufgehetzt“, also Volksverhetzung betrieben zu haben.

Der Prozess gegen Mahmut Alinak wird am 13. Mai vor dem 2. Schwurgerichtshof Kars eröffnet. Bei einer Verurteilung drohen dem Politiker 30 Jahre Haft.

Wer ist Mahmut Alinak?

Mahmut Alinak ist 1952 in Dîxor (Digor) in der Provinz Qers geboren. Er studierte Jura in Ankara und wurde Rechtsanwalt. 1987 zog er das erste Mal als Abgeordneter der SHP ins türkische Parlament ein. 1994 wurde er nach Aufhebung der parlamentarischen Immunität gemeinsam mit Orhan Doğan, Hatip Dicle, Ahmet Türk, Sırrı Sakık und Leyla Zana verhaftet. Im Gefängnis schrieb er seine ersten beiden Bücher.

Alinak war mehrmals im Gefängnis. 2011 wurde er im Rahmen der KCK-Operationen verhaftet und war sieben Monate in Haft. 2014 verbrachte er weitere drei Monate im Gefängnis.

Im Januar 2019 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Inhaftierung Alinaks verurteilt und ihm Schadensersatz zugesprochen. Alinak wurde im Jahr 2008 in Qers wegen seiner Kritik am Unrechtssystem auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali, wo Abdullah Öcalan seit 1999 inhaftiert ist, und aufgrund eines Antrags bei der Stadtverwaltung auf Straßenumbenennung verurteilt. Alinak hatte gefordert, einige Straßen in Qers nach türkischen und kurdischen Intellektuellen, Revolutionären und Gefallenen zu benennen. Unter anderem ging es um die Namen des Schriftstellers Musa Anter, des Menschenrechtsanwalts Vedat Aydın und des Mitglieds der türkischen 68er-Bewegung Deniz Gezmiş. Der EGMR entschied, dass die Haft Alinaks gegen das Recht auf Freiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung verstoßen hat.