HPG: Kommandant und Revolutionär Şiyar Efrîn ist gefallen

Şiyar Efrîn war fast drei Jahrzehnte bei der PKK. Er wurde von Abdullah Öcalan ausgebildet, kämpfte in Zagros und Botan, beteiligte sich am Widerstand für Selbstverwaltung in Şirnex. Nun ist er bei einem Angriff des türkischen Staates gefallen.

Fast 30 Jahre im Widerstand

Der Guerillakommandant Şiyar Efrîn ist gefallen. Wie die Volksverteidigungskräfte (HPG) am Freitag bekannt gaben, kam der langjährige Kader der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Juli dieses Jahres bei einem Angriff des türkischen Staates in den Medya-Verteidigungsgebieten ums Leben. Mit ihm habe das kurdische Volk einen „außergewöhnlichen und stürmischen Revolutionär“ verloren, der fast 30 Jahre seines Lebens auf dem „Marsch der Freiheit“ verbrachte. „Şiyar Efrîn war ein Mutiger mit einer unerschütterlichen Haltung. Er war uns ein Freund, Motivator und Wegbahner, der im Laufe seines revolutionären Lebens viele Erfolge erzielte. Seinen Freundinnen und Freunden sowie der kurdischen Jugend wird er stets als Beispiel dienen und uns den Weg zum Sieg aufzeigen“, würdigten die HPG den Gefallenen. Zu seinen persönlichen Daten machte die Guerillaorganisation folgende Angaben:

Codename: Şiyar Efrîn

Vor- und Nachname: Lokman Ismail

Geburtsort: Efrîn

Namen von Mutter und Vater: Emine – Mehmet

Todestag und -ort: Juli 2024 / Medya-Verteidigungsgebiete


Şiyar Efrîn stammte aus der Efrîn-Region in Westkurdistan (Rojava), wuchs allerdings außerhalb seiner Geburtsstadt auf. Im panarabischen Syrien wurden die kurdische Kultur und Sprache jahrzehntelang diskriminiert, politische Aktivitäten mit Gewalt durch den Staat unterdrückt. Diese Erfahrung musste auch die Familie Ismail machen. Sie ließ sich in Aleppo nieder, wo Şiyar Efrîn in einem mit dem kurdischen Widerstand verbundenen Umfeld groß wurde. Er galt als überdurchschnittlich intelligenter Schüler, machte sein Abitur in Aleppo. Zur Universität ging er allerdings nicht; er hatte 1994 Anhänger:innen der „Apoisten“ näher kennengelernt – so wurde die PKK-Gründungsgruppe aus Studierenden um Abdullah Öcalan genannt – und entschieden, einer von ihnen zu werden.


Rund ein Jahr war Şiyar Efrîn bei der Revolutionären Jugend Kurdistans aktiv, bevor er sich der PKK anschloss. Er ging nach Damaskus, wo die PKK damals ihre zentrale Parteischule hatte, und wurde von ihrem Begründer Abdullah Öcalan persönlich unterrichtet. 1996 wechselte er an die Front des bewaffneten Widerstands und ging ins Zagros-Gebirge. Es waren die harten Jahre des Krieges. Acht Jahre verbrachte er dort, bevor er in die Zap-Region ging und eine erweiterte ideologische Ausbildung an der Haki-Karer-Akademie erhielt. Anschließend beteiligte er sich an Arbeiten im zentralen Hauptquartier der HPG. Im Jahr 2006 durchlief er ein Fedai-Programm an der nach Mahsum Korkmaz benannten Militärakademie. Zuvor hatte er den Wunsch geäußert, in Nordkurdistan zu kämpfen. 2007 betrat er die für ihren Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung bekannte Botan-Region.


„Hevalê Şiyar übernahm alle Aufgaben mit Liebe und Leidenschaft. Ob als Kurier oder Logistiker, als Mitwirkender in der Öffentlichkeitsarbeit oder im revolutionären Volkskrieg; er war immer erfolgreich. Er war ein bahnbrechender Kommandant, der mit seiner aufrichtigen Kameradschaft, seiner Haltung, seinem Engagement und seinem Mut die Herzen aller seiner Freundinnen und Genossen gewann“, beschreiben die HPG Şiyar Efrîn in ihrem Nachruf. Lange wirkte er im Rahmen der Regionalkommandantur Botan in der Öffentlichkeitsarbeit mit. Hier beteiligte er sich ab 2015 auch am Widerstand für Selbstverwaltung.


Unter dem Eindruck des Wiederaufflammens des kriegerischen Vorgehens des türkischen Staates in Kurdistan war im Sommer jenes Jahres in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert worden – der demokratische Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“. Das war die Antwort Nordkurdistans auf den Startschuss des Vernichtungskrieges, den Ankara mit der praktischen Umsetzung des „Zersetzungsplans” („Çöktürme Planı“, sinngemäß: „In die Knie zwingen“) aufgenommen hatte. Bei dem Zersetzungsplan handelt es sich um ein bereits 2014 und damit noch während des „Dialogprozesses“ mit dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan von der türkischen Regierung in die Wege geleitetes militärisches und politisches Vernichtungskonzept gegen die kurdische Gesellschaft und ihre organisierten Strukturen.


Die Antwort des Staates auf die Forderungen nach regionaler Autonomie und einem Ende des Krieges ließ nicht lange auf sich warten. Mehrere Städte wurden über Monate belagert, Massaker an der Bevölkerung verübt, ganze Stadtviertel von Panzern und Kampfflugzeugen in Schutt und Asche bombardiert. Şiyar Efrîn beteiligte sich in Şirnex (Şırnak) am Widerstand und verhalf den Jugendstrukturen zu ihrer Organisierung YPS (Zivile Verteidigungseinheiten). Dazu schreiben die HPG: „Es waren vielleicht die unverhältnismäßigsten, unmöglichsten und schwierigsten Bedingungen, die die Menschheitsgeschichte in einem Krieg erlebt hat. Nur mit Kleinwaffen ausgestattet, aber mit Mut im Herzen, menschlichem Willen und Entschlossenheit leistete die Jugend Kurdistans einen eindrucksvollen Widerstand gegen eine bis auf die Zähne hochgerüstete Armee und Polizei, ganze Dorfschützerverbände, Kontras, Verräter, Kollaborateure sowie Panzer, Kanonen und Kampfflugzeuge – und hinterließen bei ihnen das Kurdistan-Syndrom.“


Rund ein halbes Jahr dauerte der Städte-Widerstand, danach kehrte Şiyar Efrîn in die Medya-Verteidigungsgebiete zurück. Er arbeitete im akademischen Bereich, beschäftigte sich mit Fragen der Bevölkerung und bildete junge Menschen zu Kämpferinnen und Kämpfern aus, die ihn aus Şirnex in die Berge begleitet und damit aus den Reihen der YPS zu den HPG bzw. den YJA Star, den autonomen Verbänden freier Frauen, gewechselt hatten. Angesichts seines Verlusts sprechen die HPG den Angehörigen von Şiyar Efrîn und dem kurdischen Volk ihr Mitgefühl aus.