Inhaftiert, weil er Rechenschaft für Roboskî-Massaker forderte

Barış Encu aus Roboskî wurde nach fast vier Jahren Haft entlassen. Er fordert Rechenschaft für die 34 vom türkischen Staat im Jahr 2011 massakrierten Dorfbewohner und sagt: „Wir wurden inhaftiert, weil wir Gerechtigkeit forderten.“

Am 28. Dezember 2011 bombardierten türkische Kampfflugzeuge eine Karawane aus dem Dorf Roboskî in der nordkurdischen Provinz Şirnex. Bei dem Angriff wurden 34 Zivilisten, 19 von ihnen minderjährig, getötet. Während die Täter bis heute nicht strafrechtlich belangt wurden, sind die Angehörigen der Opfer Repression ausgesetzt. Dutzende Bewohner:innen des Dorfes wurden wegen ihren Protesten mit Strafen überzogen. Mehrere Menschen aus Roboskî wurden wegen Beiträgen über das Massaker und wegen der Teilnahme an Protesten sogar inhaftiert. Barış Encu, dessen Bruder Nevzat bei dem Massaker getötet wurde, ist einer von ihnen. Er saß fast vier Jahre in Haft und wurde nun nach drei Jahren und acht Monaten im Gefängnis entlassen. Encu erklärt gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya, der einzige Grund für die Haftstrafe sei seine Forderung nach Gerechtigkeit. Der Kampf um Gerechtigkeit gehe aber weiter, bis diese erreicht sei.

Das Blut unseres Bruders ist nicht käuflich“

Barış Encu unterstreicht, dass elf Jahre seit dem Massaker vergangen seien, es aber immer noch keine Gerechtigkeit gebe. Das Massaker dürfe nicht vergessen und die Täter müssten ans Licht gebracht und bestraft werden. Er berichtet, dass den Familien eine Entschädigung aufgezwungen worden sei, und sagt: „Das Blut unseres Bruders ist nicht käuflich. Sie töten unseren Bruder und sagen: ‚Hier ist Geld für sein Blut. Verflucht sei dieses Geld.‘“ Encu berichtet, er sei inhaftiert worden, weil er nach den Tätern des Massakers gesucht und gefordert habe, dass sie vor Gericht gestellt würden. Er wurde zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt, aber nach drei Jahren und acht Monate entlassen. Er fährt fort: „Wir werden nicht zulassen, dass dieses Massaker in Vergessenheit gerät. Solange wir leben, werden wir es unseren Kindern erzählen und unsere Kinder werden es ihren Kindern erzählen, und das Massaker wird nicht vergessen werden.“

Encu weist auf die Erklärungen des damaligen Energieministers Berat Albayrak und einiger anderer Regierungsvertreter nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 hin, in denen es hieß, die „Gülen-Terrororganisation“ (FETÖ) sei für das Massaker von Roboskî verantwortlich. Encu sagt: „Das macht keinen Sinn. Wenn die FETÖ das getan hätte, warum wird dann als Bedingung der Entschädigung ‚PKK-Opfer‘ in die Akten eingetragen? Warum heißt es dann nicht FETÖ-Opfer? Hier liegt ein großer Widerspruch vor. Wenn die FETÖ es getan hat, wer wurde dann bisher als Täter des Roboskî-Massakers festgenommen? Niemand wurde festgenommen, niemand wurde vor Gericht gestellt. Wir haben noch niemanden gesehen, der vor Gericht behauptet hat, er sei der Täter von Roboskî. Solange die Identitäten der Täter nicht preisgegeben werden, haben wir kein Vertrauen in diese Aussagen.“

Das Massaker von Roboskî

Am 28. Dezember 2011 sind bei Roboskî im Landkreis Qileban (Uludere) insgesamt 34 Zivilisten bei einem Luftangriff der türkischen Armee getötet worden. Neunzehn der Opfer waren minderjährig, vier Personen überlebten schwerverletzt. Ereignet hatte sich das Massaker kurz vor dem Neujahrsfest. Die jungen Männer im Alter zwischen dreizehn und 38 Jahren, deren Familien vom Grenzhandel lebten, kehrten gerade aus Südkurdistan zurück. Ihre Esel waren mit Benzinkanistern, Tabakwaren und Zucker beladen. Um 21.37 Uhr begann der Beschuss türkischer Kampfjets und dauerte bis 22.24 Uhr an. Am Ende waren viele der überwiegend jugendlichen Zivilisten und ihre Esel regelrecht zerfetzt worden.

Der türkische Generalstab erklärte später, da die Gruppe einen auch von der PKK genutzten Weg genommen habe, sei die Entscheidung gefallen, sie anzugreifen. Man habe sie für „Terroristen” gehalten. Stunden vor dem ersten Luftschlag waren jedoch um 18.39 Uhr bereits Drohnenbilder ausgewertet worden, auf denen die Menschen eindeutig als Grenzhändler zu erkennen waren. Die örtliche Militärpolizei (Jandarma) war zudem über jeden Gang der Schmuggler informiert, da sie illegal Zollabgaben kassierte.

Die Guerilla nutzt ohnehin keine großen Wege wie die Grenzhändler und bewegt sich nicht in derart auffälligen Gruppen mit Maultieren. Auch das muss den verantwortlichen Militärs in Ankara bewusst gewesen sein. Der heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, der damals Ministerpräsident war, versprach, den Vorfall aufzuklären. Jedoch war es auch Erdoğan, der sich für das Bombardement persönlich beim Generalstabschef bedankte.