Der Prozess gegen mehrere Angehörige der Opfer des Roboskî-Massakers wegen vermeintlicher Terrorpropaganda ist am Montag mit einem Freispruch beendet worden. Das Strafgericht in der Provinzhauptstadt Şirnex kam zu dem Schluss, dass keine strafbare Handlung vorliegt und sprach alle Angeklagten frei. Das Verfahren zog sich bereits seit Ende 2019 hin. Die für Anfang Oktober angesetzte Urteilsverkündung war kurzfristig verschoben worden.
Angeklagt in dem Verfahren waren insgesamt sechzehn Personen aus dem Dorf Roboskî (tr. Ortasu), denen die Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung für ihre getöteten Angehörigen zum Vorwurf gemacht wurde. Der Vorwurf lautete: „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ – gemeint war die PKK. Die Feier hatte vier Jahre nach dem Massaker stattgefunden. Als vermeintliche Straftat wertete die Staatsanwaltschaft mehrere Schriftzüge auf Transparenten wie etwa „Selbstverwaltung statt Massaker – Frieden statt Krieg“. Bei der kurdischen Gesellschaft löste der Prozess Wut und Empörung aus. Es handelte sich aber nicht um das einzige Verfahren gegen die Roboskî-Familien.
Die kriminalisierte Gedenkveranstaltung am 28. Dezember 2015 in Roboskî war dem Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi gewidmet worden, der genau einen Monat zuvor in Amed (Diyarbakir) von der Polizei erschossen wurde. Der Rechtsbeistand der Roboskî-Familien kritisierte, dass sich der Staat mit dem Verfahren an den Toten eines Volkes rächen wolle.
Das Massaker
Am 28. Dezember 2011 waren bei Roboskî insgesamt 34 Zivilisten bei einem Luftangriff der türkischen Armee getötet worden. Neunzehn der Opfer waren minderjährig, vier Personen überlebten schwerverletzt. Ereignet hatte sich das Massaker kurz vor dem Neujahrsfest. Die jungen Männer im Alter zwischen dreizehn und 38 Jahren, deren Familien vom Grenzhandel lebten, kehrten gerade aus Südkurdistan zurück. Ihre Esel waren mit Benzinkanistern, Tabakwaren und Zucker beladen. Um 21.37 Uhr begann der Beschuss türkischer Kampfjets und dauerte bis 22.24 Uhr an. Am Ende waren viele der überwiegend jugendlichen Zivilisten und ihre Esel regelrecht zerfetzt worden.
Der türkische Generalstab erklärte später, da die Gruppe einen auch von der PKK genutzten Weg genommen habe, sei die Entscheidung gefallen, sie anzugreifen. Man habe sie für „Terroristen” gehalten. Stunden vor dem ersten Luftschlag waren jedoch um 18.39 Uhr bereits Drohnenbilder ausgewertet worden, auf denen die Menschen eindeutig als Grenzhändler zu erkennen waren. Die örtliche Militärpolizei (Jandarma) war zudem über jeden Gang der Schmuggler informiert, da sie illegale Zollabgaben kassierte.
Die Guerilla nutzt ohnehin keine großen Wege wie die Grenzhändler und bewegt sich nicht in derart auffälligen Gruppen mit Maultieren. Auch das muss den verantwortlichen Militärs in Ankara bewusst gewesen sein. Der heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, der damals Ministerpräsident war, versprach, den Vorfall aufzuklären. Jedoch war es auch Erdoğan, der sich für das Bombardement persönlich beim Generalstabschef bedankte.
Keine juristische Aufarbeitung
Obwohl über zehn Jahre vergangen sind, ist bis heute keiner der Verantwortlichen des Massakers von Roboskî zur Rechenschaft gezogen worden. Der juristische Umgang mit dem Verbrechen steht sinnbildlich für die Justiz in der Türkei: Alle Prozesse, die bis heute vor Zivil- und Militärgerichtshöfen zur Aufarbeitung des Massakers angestrengt worden sind, wurden ausnahmslos eingestellt. Nachdem alle Rechtswege im Inland ausgeschöpft waren, wurde ein Antrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gestellt. Weil der Rechtsbeistand der Opferfamilien fehlende Dokumente zwei Tage zu spät eingereicht hatte, lehnte der EGMR den Antrag im Mai 2018 ab. Ein vor fast einem Jahr beim Verfassungsgerichtshof in Ankara eingereichter Antrag für ein Wiederaufnahmeverfahren wurde bisher nicht beantwortet.
Bestrafung von Angehörigen und Überlebenden
Geht es um die Angehörigen der Opfer oder die Überlebenden des Massakers, schläft die Justiz aber nicht. Veli Encu, der seinen Bruder Serhat bei dem Luftangriff verloren hat, und Barış Encu, dessen Bruder Nevzat gestorben ist, sitzen im Gefängnis, weil sie gegen das Massaker protestiert haben. Veli Encu wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er ist seit knapp drei Jahren im Gefängnis, weitere Verfahren gegen ihn sind anhängig. Auch Barış Encu ist seit fast drei Jahren in Haft, er wurde aufgrund von Beiträgen in sozialen Netzwerken zu über sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen 34 Personen aus Roboskî läuft zudem ein Verfahren wegen des Protests gegen den damaligen Landrat Naif Yavuz. Die Anklage lautet auf „Organisationspropaganda, Beleidigung der Armee und Mordversuch“. Dutzende Angehörige sind bereits zu Geldstrafen verurteilt worden.