„Giftgasangriff auf Helebce international als Völkermord anerkennen“

Der Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Helebce am 16. März 1988 war der bis dahin weltweit größte seit dem Ersten Weltkrieg, er forderte mindestens 5.000 Menschenleben.

Der Angriff auf die kurdische Stadt Helebce (Halabdscha) am 16. März 1988 war der bis dahin weltweit größte Giftgasangriff auf ein bewohntes Gebiet: Mindestens 5.000 der damals rund 70.000 Einwohner:innen starben an diesem Tag, weitere 10.000 erlitten schwere Verletzungen und langfristige Schäden. Noch heute haben die Opfer und ihre Nachkommen mit Spätfolgen zu kämpfen: ungewöhnlich viele Fälle von bösartigem Krebs, Hautkrankheiten, Atemprobleme, Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten und angeborene Missbildungen sind nur einige davon.

Die Attacke auf Helebce erfolgte im Rahmen der „Anfal-Operation“ des Baath-Regimes von Diktator Saddam Hussein. Gegen 10.55 Uhr vormittags warfen irakische Kampfflieger mehrere 100-Liter-Bomben mit Senfgas und anderen chemischen Kampfstoffen über der Stadt ab. Es war der massivste Einsatz von Giftgas seit dem Ersten Weltkrieg und hat zu einer dauerhaften Verunreinigung des Bodens und Wassers geführt. Fast alle Opfer waren aus der Zivilbevölkerung, laut einigen Berichten waren bis zu 75 Prozent der Getöteten Frauen und Kinder.

Die Bilder der Opfer des Giftgasangriffs auf Helebce sind fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der kurdischen Bevölkerung. „Keine Vögel, keine Tiere. Nichts Lebendiges war zu sehen. Die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Ich sah Säuglinge, die in den Armen ihrer toten Mutter lagen. Ich sah Kinder, die im Todeskampf ihren Vater umarmt hatten“, berichtete der türkische Fotograf Ramazan Öztürk, der 24 Stunden nach dem Angriff in Helebce eintraf. Der iranische Fotojournalist Kaveh Golestan beschrieb das Bild, das sich ihm vor Ort bot, mit den Worten: „Das Leben hatte aufgehört wie in einem Film, der plötzlich bei einem Bild anhält.“

Einige Länder haben den Massenmord in Helebce bereits politisch verurteilt. Großbritannien, Kanada, Norwegen und Schweden haben die Zerstörung tausender kurdischer Dörfer, den organisierten Massenmord, den ethnischen Säuberungsplan, die geplante Vernichtung der kurdischen Identität und Kultur, die Auslöschung kurdischen Lebens im Nordirak und die Arabisierung kurdischer Gebiete im Zusammenhang mit „Anfal“ entsprechend der UN-Völkermordkonvention von 1948 als Völkermord anerkannt. „Doch das reicht nicht aus“, sagte Tara Hisên, Ko-Vorsitzende der südkurdischen Azadî-Bewegung (Tevgera Azadî ya Civaka Kurdistanê), am Donnerstag auf einer Gedenkveranstaltung. Die Politikerin fordert explizit auch eine internationale Anerkennung des Giftgasangriffs von Helebce als Völkermord. Dies würde einen wichtigen Schritt für Gerechtigkeit und Wertschätzung der Opfer sowie ihrer Angehörigen als auch für den Schutz der Menschenrechte weltweit darstellen. Außerdem würde ein klares politisches Signal helfen, ähnliche Gräueltaten in Zukunft zu verhindern.

Vor allem Deutschland müsse sich seiner Schuld endlich bewusstwerden und diese öffentlich einräumen, fordert Hisên. Denn die Giftgasfabrik, aus der die tödlichen Bomben kamen, wurde in den 1980er Jahren mit Hilfe deutscher Technologie erbaut und größtenteils von deutschen Firmen beliefert. Die Bundesregierung weigerte sich aber bis heute, von einem Völkermord zu sprechen, um möglichen Entschädigungszahlungen und einer Mitschuld auszuweichen.

An der offiziellen Zeremonie in Helebce beteiligten sich nur wenige Bewohnende der Stadt. Politische und zivilgesellschaftliche Organisationen riefen zu einem Boykott auf, um gegen die Vernachlässigung der Region durch die Regierungen in Hewlêr (Erbil) und Bagdad zu protestieren und eine fehlende Gedenkkultur zu geißeln, und luden zu einer Gedenkfeier ein | Foto: RojNews


Tara Hisên kritisiert, dass Helebce auch 35 Jahre nach dem Giftgasangriff weiterhin zu den ärmsten Gebieten in der autonomen Kurdistan-Region des Iraks gehört und die Menschen noch immer keine Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erfahren haben. „Es wurden zwar viele Versprechungen gemacht, aber kaum etwas davon eingehalten“, sagt Hisên. „Deshalb sprechen wir von einer strukturellen Vernachlässigung. In einer Stadt, deren Bevölkerung mit Giftgas bombardiert wurde, ist dies jedoch besonders dramatisch“, so die Azadî-Vorsitzende. Noch heute fehle es an finanziellen Mitteln für den Aufbau einer grundlegenden Infrastruktur, an sauberem Wasser und an ausreichender Gesundheitsversorgung in Helebce. „Um überlebende Opfer oder Nachkommen, die mit Spätfolgen wie Krebs oder Haut- und Atemwegserkrankungen zu kämpfen haben, kann man sich nicht angemessen kümmern. Es müsste ein Fonds für Helebce und die umliegenden Dörfer eingerichtet und die medizinische und ökonomische Infrastruktur verbessert werden“, fordert Hisên.

Foto zeigt Tara Hisên (2.v.l.) bei einer Ausstellung zum Giftgasangriff auf Helebce im örtlichen Kulturzentrum © RojNews


Es fehlt jedoch nicht nur an finanziellen Mitteln und staatlicher Unterstützung, sondern auch an internationaler Aufarbeitung und Anerkennung des Völkermordes an der Bevölkerung von Helebce. Am 9. September 1988 verurteilte die US-Regierung den Giftgasangriff als „abscheuliche und nicht zu rechtfertigende Tat“ gegen die kurdische Zivilbevölkerung. 2005 wurde der Niederländer Frans van Anraat von einem Gericht in Den Haag aufgrund seiner nachgewiesenen Mittäterschaft an Kriegsverbrechen des Regimes von Saddam Hussein im Zusammenhang mit der Lieferung von Chemikalien, die die Herstellung von chemischen Kampfstoffen ermöglicht haben, zu 15 Jahren Haft verurteilt. Daraufhin stufte das niederländische Gericht in Den Haag den Angriff auf Helebce als Völkermord ein. In Deutschland hingegen wurden die Geschäftsführer der Unternehmen, welche verdächtigt waren, das irakische C-Waffenprogramm direkt oder indirekt ermöglicht zu haben, aufgrund der Missachtung des Außenwirtschaftsgesetzes und nicht aufgrund von Beihilfe zum Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht geladen.