Foltermord durch Militärpolizei soll vor EGMR angeklagt werden

Der Foltermord an dem 17-jährigen Kurden Ibrahim Atabay durch die türkische Militärpolizei soll auf Antrag der Anwält*innen unter dem Vorwurf „Verletzung des Rechts auf Leben“ vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht werden.

Der Foltermord an dem Gymnasiasten Ibrahim Atabay durch die türkische Militärpolizei soll auf Antrag der Anwält*innen der Angehörigen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gehen. Atabay war am 7. Oktober 2009 zusammen mit zwei HPG-Mitgliedern im Dorf Kel (türk. Buğulukaynak) in der Nähe der nordkurdischen Kreisstadt Ebex (Çaldıran) gefoltert und hingerichtet worden. Die Anwält*innen hatten Klage aufgrund der Verletzung des Rechts auf Leben und dem Fehlen einer effektiven Verfolgung des Verbrechens im Inland erhoben.

Was war geschehen?

In dem Dorf Kel nahe der türkisch-iranischen Grenze folterten, ermordeten und verstümmelten türkische Spezialeinheiten die beiden unbewaffnete Guerillakämpfer der Volksverteidigungskräfte HPG, Sunullah Keserci und Necmeddin Ahmet Hasan, und den 17-jährigen Ibrahim Atabay. Der Vater des am 7. Oktober 2009 ermordeten Gymnasiasten Ibrahim Atabay berichtete, dass die beiden Mitglieder der Guerilla sich im Haus des Bruders des Ermordeten befunden haben. Der 17- Jährige kam hinzu, um zu schauen, wer gekommen war. Doch mehr als tausend Soldaten umstellten das Dorf und bauten vor dem Haus schweres Geschütz auf, um die Menschen am Näherkommen zu hindern. Dann stürmten sie das Haus und setzten die Bewohner*innen fest. Im Haus und in einem Nebengebäude wurden Atabay, sein 27-jähriger Bruder Sinan, sein Onkel M. Emin Atabay und die beiden Guerillakämpfer gefoltert. Sie wehrten sich nicht, da die Militärs drohten, bei Widerstand das Dorf zu zerstören.

Auch der Familie von Ibrahim Atabay drohten sie: „Betet, dass nicht einem Soldaten oder Militärpolizisten die Nase blutet. Ich werde eure Region ficken und eure Dörfer auslöschen.“ Dann führten die Spezialeinheiten Ibrahim und die beiden Mitglieder der Guerilla vom Dorf weg. Über Funk war zu hören: „Die werden überhaupt nichts sagen. Sprich für sie schon mal ein Totengebet.“

Danach, etwa eine Stunde später, waren Schüsse zu hören. Was in der Zwischenzeit passierte, lässt sich von den Angehörigen durch die Spuren des Verbrechens und Augenzeugenaussagen rekonstruieren. Ibrahim Atabay wurde noch in Sichtweite des Dorfes von den Spezialeinheiten in den Fuß geschossen. Die beiden anderen Gefangenen trugen Ibrahim dann unter Schlägen weiter in die Schlucht hinein. Sie wurden auf dem Weg immer wieder gefoltert und misshandelt. Als sie nicht mehr laufen konnten, wurden sie durch Disteln, über Steine und scharfes Gras geschliffen. Steine, welche die Dorfbewohner*innen später abgelegt haben, markierten die Blutspur. Ein Steinhaufen in der Schlucht zeigt die Stelle an, an der einer der Guerillakämpfer so lange mit dem Kopf auf einen Fels geschlagen wurde, bis die Schädeldecke aufplatzte und er verstarb. Dorfbewohner*innen fanden später, nachdem die Soldaten abgezogen waren, die Schädeldecke am Boden liegend. Der Vater von Ibrahim Atabay berichtete, die Spezialeinheiten hätten mit Steinen die Finger seines Sohnes zerschlagen, bis nichts mehr von ihnen zurückblieb. Anschließend sei er erschossen worden. Die Körper der drei Getöteten wurden in Säcke gepackt und abtransportiert. Eine Autopsie fand nicht statt.

Extralegale Hinrichtungen bleiben straflos

Eine Woche nach dem Verbrechen hatte der Menschenrechtsverein IHD den Tatort besucht und Anzeige erstattet. Auch eine Delegation von Anwält*innen aus Deutschland besuchte den Tatort und erhob Anzeige nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Die Anzeige wurde aufgrund der Immunität der Regimevertreter eingestellt. Die Anzeige des IHD und das internationale Echo zwangen die Türkei dennoch zum Handeln. Im Rahmen einer Ermittlung wurden 17 Mitglieder einer Spezialeinheit inhaftiert. Wie jedoch in solchen Fällen üblich, wurden diese bereits eine Woche später wieder freigelassen. Der verantwortliche Oberst blieb ein Jahr in Haft. Der Prozess wurde wegen „Sicherheitsproblemen aufgrund von Stammesstrukturen“ nach Ankara verlegt. Dort wurde auch der Oberst am 23. November 2015 freigesprochen. Die Entscheidung wurde angefochten. Das 1. Berufungsgericht des Obersten Gerichtshofs lehnte den Antrag ab.

Damit war der Weg frei, vor das türkische Verfassungsgericht als oberste Instanz zu ziehen. Die Anwält*innen klagten sowohl auf Strafe als auch auf Entschädigung. Der Verfassungsgerichtshof nahm die Klage wegen „Verletzung des Rechts auf Leben“ nicht an, da der Rechtsweg nicht ausgeschöpft sei. Aufgrund der Abweisung der Klage durch das Verfassungsgericht wenden sich die Anwält*innen nun an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Um das Verfahren zu akzeptieren, muss der EGMR den inländischen Rechtsweg für ausgeschöpft anerkennen.