Der beleidigte Präsident: Erdoğan verklagt Emine Şenyaşar

Die Kurdin Emine Şenyaşar ist wegen vermeintlicher Präsidentenbeleidigung von Recep Tayyip Erdoğan verklagt worden. Der türkische Staatschef sieht sich in Kritik am skandalösen Vorgehen seiner Justiz im Prozess um die Lynchmorde von Pirsûs gedemütigt.

Juristische Schikane

Die Kurdin Emine Şenyaşar ist wegen vermeintlicher Präsidentenbeleidigung von Recep Tayyip Erdoğan verklagt worden. Der türkische Staatschef sieht sich in Kritik am skandalösen Vorgehen seiner Justiz im Prozess um die Lynchmorde von Pirsûs gedemütigt und forderte über seinen Rechtsbeistand die Eröffnung einer Klage. Gesagt getan: Die Strafkammer des Landgerichts in Riha (tr. Urfa) hat die Anklage zugelassen. Der Prozessauftakt wurde für den 31. Oktober festgelegt.

Der Vorwurf der Präsidentenbeleidigung wiegt in der Türkei schwer. Artikel 299 des Strafgesetzbuches sieht für solche Vergehen Gefängnisstrafen von bis zu vier Jahren vor. Geht es nach Erdoğan, soll Şenyaşar neben einer Haft aber auch zum Entzug ihrer Bürgerrechte (Artikel 53) verurteilt werden. Dies hätte unter anderem zur Folge, dass sie ihr individuelles Recht auf Versammlungsfreiheit nicht ausüben könnte – und damit ihre „Gerechtigkeitswache“ beenden müsste. Für Erdoğan und sein AKP-Gefolge ist die Aktion ein Störfaktor, der beseitigt werden soll.

Emine Şenyaşar ist die Witwe von Hacı Esvet Şenyaşar und Mutter der gemeinsamen Söhne Celal und Adil. Die drei Männer wurden wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 am Rande einer Wahlkampftour in der kurdischen Kreisstadt Pirsûs (Suruç) von bewaffneten Bodyguards und Verwandten des damaligen Abgeordnetenkandidaten Ibrahim Halil Yıldız brutal getötet. Yıldız hatte damals den Lynchmob angeführt, dem um Haaresbreite auch drei andere Söhne der Şenyaşars zum Opfer gefallen wären.

Ferit Şenyaşar, der Abgeordneter der DEM-Partei im türkischen Parlament ist, überlebte die Angriffe des Lynchmobs (c) MA

Weil die türkischen Justizbehörden kein Interesse daran zeigen, die Morde restlos aufzuklären, und Ibrahim Halil Yıldız sowie dessen Mafiabande nach wie vor ein Leben in Freiheit genießen, führt Emine Şenyaşar seit Jahren eine Mahnwache für Gerechtigkeit durch. 846 Tage hatte die über Siebzigjährige vor dem Justizpalast in Riha ausgeharrt, um eine Bestrafung der Täter einzufordern. Einzelpersonen, politische Parteien und NGOs zeigten sich solidarisch mit Şenyaşar und ihrem Kampf und besuchten ihre Mahnwache. Am 8. Oktober 2022 erhielt sie die Unterstützung von Mitgliedern der damaligen HDP-Fraktion im türkischen Parlament. Am Rande von Reden, die von den Politikerinnen Meral Danış Beştaş und Ebru Günay gehalten wurden, stimmte Şenyaşar kurdische Wehklagen an, um den Verlust ihres Mannes und der beiden Söhne zu beweinen. Dies ist nun von der türkischen Justiz auf Betreiben des AKP-Chefs Erdoğan in eine Präsidentenbeleidigung umgewidmet worden.

Emine Şenyaşar sitzt die meiste Zeit im Rollstuhl. Rechts im Bild: Sevinç Çakır (c) MA

Es handelt sich nicht um die erste Anklage gegen Emine Şenyaşar. Gegen die betagte Frau sind seit Beginn ihrer Gerechtigkeitswache im März 2021 insgesamt 31 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, von denen elf angeklagt und mindestens drei mit Geldstrafen abgeschlossen worden. Mehrmals wurde sie vorübergehend festgenommen, außerdem ist sie mit polizeilichen Meldeauflagen versehen worden. Unterkriegen lässt sie sich dennoch nicht. Vor einigen Wochen hat die Seniorin ihre Mahnwache nach mehrmonatiger Unterbrechung vor das Justizministerium in Ankara verlagert. Dort kritisierte Şenyaşar die neue Anklage gestern als „Paradebeispiel toxischer Respektlosigkeit“. „Erdoğan sollte sich lieber für meine ermordeten Kinder einsetzen, anstatt sich auf die Seite der Täter zu stellen und mich zu verklagen.“

Unterstützung erhielt Ermine Şenyaşar von Sevinç Çakır. Die Frau ist Mutter eines Junioroffiziers der türkischen Luftwaffe, der im Zuge des mutmaßlich vorgetäuschten Pseudo-Putschs vom Juli 2016 inhaftiert wurde. „Wir erwarten Gerechtigkeit von demselben System. Einem System, das uns leiden lässt. Dabei ist unsere einzige Forderung, dass die Gerichte im Rahmen des Schutzes der Menschenwürde und der universellen Rechtsgrundsätze handeln und allen Menschen, ganz gleich welcher Herkunft oder Glaubensrichtung, Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Beenden Sie diesen Schmerz und Sorgen für Gerechtigkeit“, sagte Çakır.