Der staatlich geförderte Drogenkonsum und die Zwangsprostitution haben in Nisêbîn (tr. Nusaybin) stark zugenommen. Immer mehr junge Frauen und Männer aus der Kreisstadt im Südosten der kurdischen Provinz Mêrdîn seien Opfer von Situationen, in denen sie in den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung oder Abhängigkeit von Drogen gedrängt werden, sagte die Lokalpolitikerin Gülbin Şahin Dağhan, die Kandidatin der Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM) für das Amt der Bezirksbürgermeisterin ist, am Montag bei einer öffentlichen Presseerklärung in Nisêbîn. Die Tätergruppen ließen sich klar eingrenzen und beim Gewaltmonopol des Staates lokalisieren.
Wie in allen Hochburgen des kurdischen Widerstands wendet der türkische Staat im Rahmen seiner „Aufstandsbekämpfung“ auch in Nisêbîn seit Jahren gezielte Maßnahmen an, um die Bevölkerung zu disziplinieren und abhängig zu machen. Die kurdische Bewegung spricht hierbei von einem „Spezialkrieg“, um staatliche Methoden der Aufstandsbekämpfung zu beschreiben, die weniger sichtbar sind. Technisch gesehen handelt es sich um eine unkonventionelle Kriegsführung, in der eine Kombination aus militärischen und politischen Mitteln einschließlich einer intensiven psychologischen Komponente steckt, wobei Gewalt in vielfältigen Formen zentral bleibt. Diese Art der Kriegsführung zielt darauf ab, Kämpfe gegen das System zu unterdrücken, Rebellierende enger ans System zu binden und so zu beeinflussen, dass sie sich dem Staat hingeben, anstatt sich der Gewalt und Unterdrückung zu widersetzen – und letztlich Bevölkerung und Befreiungsbewegung voneinander zu isolieren.
Im Fokus dieser Methoden stehen Jugendliche und insbesondere Frauen und Mädchen. „Sie gelten als Motor des sozialen Wandels und sollen durch eine gezielte Strategie der Entpolitisierung von der produktiven Dynamik der Gesellschaft ferngehalten und zu Objekten eines Kreislaufs von Ausbeutung, Demütigung und Entmenschlichung gemacht werden“, erklärte Dağhan. Dem Staat gehe es dabei um eine gewollte Zerstörung der Gesellschaft. Krieg und Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung, Armut, Umweltzerstörung und Klimawandel gehörten zum Alltag in Kurdistan. Aus diesen multiplen Realitäten resultiere eine enorme Perspektivlosigkeit, die junge Menschen für die breite Palette an ideologischen Mitteln des Spezialkriegs empfänglich machen und sie ins gesellschaftliche Abseits treiben lassen würden.
„Dass wir gerade in Nisêbîn einen Anstieg dieser Tendenzen beobachten, liegt mitunter auch daran, dass die Jugend quasi keine Freiräume mehr hat“, betonte Dağhan. Dabei seien eigenverfügbare Räume für Jugendliche zu ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung notwendig. Der Grund für das Fehlen: Nisêbîn wurde im Zuge der türkischen Militärbelagerung und den Ausgangssperren, die in den Jahren 2015 und 2016 auf den Widerstand um demokratische Autonomie folgten, großflächig zerstört. Zahlreiche junge Menschen, die das Projekt der Selbstverwaltung unterstützten, kamen ins Gefängnis und erhielten lebenslängliche Freiheitsstrafen. Darüber hinaus wurden zahlreiche Einrichtungen und Vereine im Zuge der in Kurdistan eingeführten „Politik der Zwangsverwaltung“ geschlossen bzw. verboten. Der öffentliche Raum in Nisêbîn wurde im Sinne der AKP-Ideologie kapitalisiert und privatisiert, alternative Lebensmilieus aus der Stadt verdrängt und marginalisiert.
In Räumen, in denen vor einigen Jahren noch an Projekten für Aufklärung, Emanzipation und Soziokultur gearbeitet wurde, findet heute unter den Augen von Polizei und Militär Zwangsprostitution und Drogenhandel statt. Dağhan meint, dass der Wunsch nach einer Jugend mit einem eigenständigen, unabhängigen Leben – jenseits von Drogen, Sucht und Gewalt dem Ziel des Staates zuwiderläuft, die kurdische Gesellschaft als Ganzes brechen zu wollen. „Diese dunklen Machenschaften haben sich wie ein Netz über Nisêbîn und andere kurdische Regionen, aber auch kurdisch geprägte Ballungsräume im Westen des Landes, gelegt. Als DEM-Partei sind wir jedoch entschlossen, Frauen und Jugendliche aus diesem Sumpf zu befreien und zu schützen.“ Die Partei wolle alle Hebel in Bewegung setzen, dem staatlich geförderten Drogenhandel und der Zwangsprostitution ein Ende zu bereiten. Dieses Engagement sei aber kein Freifahrtschein für Behörden und einschlägige Organisationen, ihre Pflicht bei der Bekämpfung von solchen Herausforderungen nicht zu erfüllen. „Alle Verantwortlichen müssen handeln und mitziehen, um den Spezialkrieg zu beenden“, forderte Dağhan.