Bayındır: Vernichtungspolitik der Türkei geht weiter

Der DBP-Vorsitzende Keskin Bayındır beschreibt im ANF-Interview die Angriffe auf Süd- und Westkurdistan ebenso wie die Vollzugsgesetzreform in der Türkei als Produkt der Vernichtungspolitik des AKP-Regimes.

Keskin Bayındır, Ko-Vorsitzender der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), hat sich im ANF-Interview zu den aktuellen politischen Entwicklungen im Mittleren Osten im Kontext der kurdischen Frage geäußert.

Ihre Partei hat sofort nach Bekanntwerden der ersten Fälle von Covid-19 Krisenkoordinationszentren eingerichtet. Könnten Sie uns etwas über deren Arbeit berichten?

Als die ersten Fälle in der Türkei am 10. oder 11. März bekannt wurden, haben wir zusammen mit den anderen politischen Parteien in Kurdistan, den zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem Demokratischen Gesellschaftskongress (DTK) einen Krisenstab aufgebaut. Das war notwendig, da die AKP/MHP-Regierung die Gesellschaft nicht wahrheitsgemäß informiert. Wir haben dafür gesorgt, dass die Bevölkerung Informationen über die notwendigen Schutzmaßnahmen bekommt. Die Menschen, die aufgrund der Quarantäne vom wirtschaftlichen Leben abgeschnitten sind, werden mit Desinfektions- und Nahrungsmitteln versorgt. Das machen wir auch weiterhin. Die von unserer Dachpartei HDP begonnenen Patenfamilienkampagne findet großes Echo. Wir arbeiten außerdem mit den Kommunalverwaltungen und den Frauenorganisationen im Kampf gegen die Zunahme patriarchaler Gewalt im Rahmen der Quarantäne zusammen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen in unserem Krisenstab verfolgen die Fallzahlen in Kurdistan und geben diese der Gesellschaft bekannt.

Obwohl in Amed zwei Millionen Menschen leben, werden täglich nur 500 Personen getestet. Das zeigt, dass sich die Seuchenpolitik der Regierung auch gegen die kurdische Bevölkerung richtet. Es ist notwendig, unser Volk und seine Gesellschaft gegen diese Politik zu verteidigen und seine Widerstandskraft zu steigern.

Das AKP/MHP-Regime hat vor dem Hintergrund der Pandemie ein Vollzugsgesetz durchgesetzt, das etwa 90.000 Gefangenen die Freilassung ermöglicht, politische Gefangene sind ausgeschlossen. Was werden die Folgen sein?

Personen, die an Vergewaltigungen, Gewalt gegen Frauen, Raub und Diebstahl beteiligt sind, werden freigelassen, aber die politischen Gefangenen bleiben in Haft. Diese Politik der AKP und MHP hat dazu geführt, dass sie ihre letzte politische Legitimität sowohl in unseren Augen als auch in der Gesellschaft eingebüßt haben. Der Kampf gegen dieses Gesetz wird auch weiterhin fortgesetzt. Es ist etwas, dass das Gewissen einer Gesellschaft nicht akzeptieren kann. Andernfalls werden die Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllt, so dass ein noch problematischerer und kritischerer Prozess beginnt. Das wird weder der Gesellschaft noch der AKP/MHP-Regierung nutzen.

Die Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan geht trotz Pandemie weiter. Was sind Ihre Forderungen und Erwartungen in diesem Zusammenhang?

Dass die Isolation in solch einer Zeit andauert, bereitet uns große Sorgen. Diese Sorge teilen wir mit den Völkern Kurdistans und des Mittleren Ostens. Wir glauben, dass dies auch die Sorge der linkssozialistischen und demokratischen Opposition in der Türkei sein sollte. Die politische Position von Herrn Öcalan ist wichtig für unser aller Zukunft. Deswegen appellieren wir insbesondere an diese Segmente der Gesellschaft.

Wie bewerten Sie die aktuellen politischen Entwicklungen in Südkurdistan?

Das AKP/MHP-Regime verfolgt seit zehn Jahren ein systematisches Angriffskonzept gegen die Kurden. Die ideologische Grundlage für diese Angriffe wurde durch Studien an der Erciyes-Universität in Kayseri und der Selçuk-Universität in Konya gelegt. In diesen Arbeiten ist genau ausgeführt, wie die Kurden in allen vier Teilen Kurdistans politisch, physisch und kulturell unter Druck gesetzt und wie ihre Errungenschaften vernichtet werden sollen. Diese Studien werden nun im Feld umgesetzt. In diesen Analysen und Handlungsvorschlägen geht es auch darum, welche Strategie der türkische Staat gegenüber den Errungenschaften in Südkurdistan verfolgen soll.

Die Strategie des türkischen Staates verfolgt das Ziel, die kurdischen Errungenschaften im Süden zu ersticken und zu vernichten. Das steht hinter der immer stärkeren Stationierung von militärischen, geheimdienstlichen und politischen Kräften in der Region. Die politischen Kräfte in Südkurdistan sind meiner Meinung nach weit davon entfernt, diese Situation zu erkennen. Es wäre schwer zu erklären, dass die militärischen Angriffe des türkischen Staates auf Mexmûr nicht als Teil dieser Strategie angesehen werden könnten. Der gegenwärtige Politikstil der politischen Kräfte in Südkurdistan ist kein Politikstil, der die Kurden zusammenhalten, durch den kommenden schwierigen Prozess tragen und ihre Errungenschaften schützen kann. Diese Praxis muss überprüft werden. Die Kurden brauchen einen Politikstil, der sich an ihren Interessen orientiert. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte die Aufhebung des Embargos gegen Mexmûr sein.

Die Verteidigungskräfte von Rojava haben aufgrund der Pandemie ihre Operationen eingestellt, aber die türkischen Angriffe gehen weiter. Was ist der Grund für diese Verletzung des UN-Appells?

Mit dem Ausbruch der Pandemie haben die Vereinten Nationen zu einem weltweiten Waffenstillstand aufgerufen. Während überall auf der Welt die Kämpfe eingestellt wurden, hielt sich die Türkei in keiner Weise an den Aufruf und setzte ihre Verleugnungs- und Vernichtungspolitik fort. Wie Sie es in den Medien verfolgen konnten, haben die QSD [Demokratischen Kräfte Syriens] ihre militärischen Operationen eingestellt. Das AKP/MHP-Regime betrachtete dies als Gelegenheit und zerstörte die Wasserversorgung. Der Grund für diese Angriffe ist, dass die Strategie der Türkei gemeinsam mit den Muslimbrüdern in Idlib gescheitert ist. Sie versuchen nun, diese Niederlage durch die Vernichtung der Errungenschaften der Kurden in Rojava auszugleichen. Das türkische Regime versucht die Alliierten, die es verloren hat, wieder zusammenzubringen. Es greift die Kurden an und versucht, die kurdenfeindlichen Kräfte in der Region zusammenzubringen und sie anzuführen. Natürlich kann es damit keinen Erfolg haben. Sie können mit militärischen Angriffen, schmutziger Kriegsführung und zeitweiligen Besetzungen Druck auf einige Gebiete ausüben, aber wenn sie glauben, dass diese ihnen auf lange Sicht überlassen bleiben, liegen sie falsch. Der soziale, wirtschaftliche, kulturelle, politische und religiöse Reichtum in Rojava wird dies niemals zulassen.