Am 4. April wird Abdullah Öcalan 71 Jahre alt. In Kurdistan begeht die Bevölkerung den Geburtstag des kurdischen Vordenkers traditionell mit dem Pflanzen von Bäumen. In Şengal, dem ezidischen Hauptsiedlungsgebiet im Nordirak, wird dieser Tag seit 2015 kollektiv gefeiert. Zuvor hatte die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) am 3. August 2014 Şengal überfallen und einen Genozid verübt. Jüngsten Schätzungen nach fielen dem Völkermord – der 74. in der Geschichte dieser alten Religionsgemeinschaft – etwa 10.000 Menschen zum Opfer. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden entführt, mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und weitere Tausende werden bis heute vermisst.
Nach dem Genozid begann die ezidische Gemeinschaft in Şengal eine organisierte Gesellschaft zu etablieren, die auf ökologischer Nachhaltigkeit, der Befreiung der Geschlechter und radikaler Demokratie basiert. Dahinter steckt die Philosophie von Abdullah Öcalan. Bereits Anfang der 1990er Jahre sprach der PKK-Gründer von der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels innerhalb der ezidischen Gemeinschaft und appellierte an die Eziden, sich zu organisieren und ihre Selbstverteidigung zu leisten. Nicht nur gegen Angriffe von außen, sondern zugleich als Mittel, sich gegen die patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft zu wehren. Mehrere Reorganisierungsversuche scheiterten unter dem Saddam-Regime, Terroristen von al-Qaida und der südkurdischen Autonomieregierung.
Der endgültige Bruch mit letzterer kam mit dem Genozid. Denn als der IS im August 2014 in Şengal einfiel, zogen sich die dort stationierten Peschmerga zurück und überließen die Eziden schutzlos dem IS. Wer fliehen konnte, zog sich ins Gebirge zurück. Dort schützten zunächst zwölf HPG-Kämpfer den Eingang zum Şengal-Berg und verhinderten das Eindringen der Dschihadisten. Aus den Bergen an der türkisch-irakischen Grenze in Nordkurdistan und aus Rojava eilten drei Tage später weitere Guerillakämpfer und Mitglieder der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ mit schweren Waffen herbei. Sie richteten einen Fluchtkorridor ein, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Eziden nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten in den ersten Tagen bereits 50.000 Menschen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden.
Unter dem Eindruck des Genozids wurden im September 2014 die ezidischen Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) gegründet. Später kamen die Frauenverteidigungseinheiten YJŞ hinzu. Zum 66. Geburtstag Abdullah Öcalans begannen die Kämpfer*innen gemeinsam mit der Bevölkerung in Deriye Kersê einen Hain, den „Baxçê Serok Apo“ anzulegen. Auf dem Gelände befand sich auch ein Gefallenenfriedhof. Genau ein Jahr später fand die Eröffnungszeremonie statt. 2017 wurde das Wäldchen bei einem türkischen Luftangriff zerstört.
Die Wiederaufbauarbeiten des Hains begannen damals nur wenige Tage später, um die Pflege kümmern sich inzwischen nur noch die YBŞ/YJŞ. Auch wenn die Bevölkerung damit nicht einverstanden ist, dient die Maßnahme dem Schutz der Menschen, da die Türkei immer wieder Şengal aus der Luft bombardiert.
Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie sehen die Feierlichkeiten zum Geburtstag Öcalans in diesem Jahr anders aus. Der 4. April wird nicht wie üblich mit kollektiven Baumpflanzaktionen begangen, sondern im kleinen Kreis. Grabbesuche können ebenfalls nicht stattfinden. Stattdessen wird jede Familie in der Region in ihrem Garten oder einer Anbaufläche eine eigene Baum- und Blumenpflanzaktionen durchführen. Das kündigte der YBŞ-Kämpfer Helses Koço an. „Der 4. April hat für das Volk in Şengal und seine Kämpferinnen und Kämpfer eine besondere Bedeutung. Wir assoziieren mit ihm den Beginn unserer Freiheit und Selbstorganisierung. Und das möchten wir mit dem Pflanzen von neuem Leben zum Ausdruck bringen.“
In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, Abdullah Öcalan!