Auf dem Weg zur Wahrheit

Schritt für Schritt kamen wir der Akademie näher. An einem Bach säuberten wir unsere Hosenbeine vom Schlamm und wuschen uns das Gesicht. Die beiden Guerillakämpferinnen, die uns hergebracht hatten, überließen uns den Schülern der Akademie.

Mitte Mai bin ich mit meiner Freundin Stêrk zu einer langen Reise aufgebrochen. An einem Tag, an dem es heftig regnete, machten wir uns auf den Weg zur Haki-Karer-Akademie. Die Wetterbedingungen waren zwar schwierig, aber wir waren unbändig aufgeregt. Die Begeisterung, Dutzende Guerillakämpfer*innen zu treffen, die sich an der Akademie weiterbildeten, ließ uns Kälte und Nässe vergessen. Wir wollten so schnell wie möglich ankommen.

Schließlich erreichten wir das Gebiet. Auf uns wartete ein langer Marsch. Der Himmel war bewölkt, Nieselregen wechselte sich mit Wolkengüssen ab, es war windig, ein unbeständiges Wetter. Als der Regen nachließ, wurden wir weiter von den Regentropfen durchnässt, die sich auf den Bäumen gesammelt hatten. Beim Laufen redeten wir darüber, dass die Natur die Ungerechtigkeit auf dieser Welt und den täglichen Tod Hunderter Kinder und Frauen nicht akzeptiert. Der Einspruch der Natur gilt sowohl uns, die wir ihr Gleichgewicht zerstören, als auch dem, was Menschen einander antun. Die Bäume um uns herum waren vielleicht schon hundert Jahre alt und es war, als ob sie mit uns sprechen würden. Die Luftangriffe der türkischen Besatzerarmee, ihre Mörsergranaten und Haubitzen hatten ihnen zugesetzt, viele waren entwurzelt. Bedenkt man noch die vielen weiteren Lebewesen, die zwischen diesen Bäumen gelebt haben, liegt der Gedanke an eine Rache von Mutter Natur nahe. Aus diesem Grund regnete es Ende Mai wie aus Kübeln, es gab Gewitter und Überschwemmungen.

Schritt für Schritt kamen wir der Akademie näher. An einem Bach säuberten wir unsere Hosenbeine vom Schlamm und wuschen uns das Gesicht. Die beiden Guerillakämpferinnen, die uns hergebracht hatten, überließen uns den Schülern der Akademie. Zwei Guerillakämpfer waren uns entgegen gekommen. Ihre strahlenden Gesichter spiegelten ihre Hyperaktivität und Energie wieder. Nach einem herzlichen Händeschütteln betraten wir einen langen Pfad. Während wir ihn entlang gingen, dachte ich: „Wer weiß, vielleicht sind schon Hunderte Guerillakämpferinnen und Guerillakämpfer über diesen Pfad gelaufen und vielleicht sind viele von ihnen schon tot.“ Wer mit einer schweren Last diese Berge erklimmt, dem kommen bei jedem Schritt Erinnerungen.

Die Guerillakämpfer*innen empfingen uns mit einer Zeremonie. Die Lebendigkeit in den Augen der Einzelnen und ihre herzlichen Blicke füllten unser Inneres mit Wärme.

Es handelte sich um eine ideologische Akademie. Haki Karer hat mit seiner genossenschaftlichen Art und seiner Haltung eine besondere Bedeutung in der Geschichte der PKK.

Amara, eine der Guerillakämpfer*innen, die zur Ausbildung an der Akademie waren, erzählte uns: „Haki Karer hat bei der Begründung unserer Bewegung eine wertvolle Rolle gespielt. Er war bekannt für seinen Einsatz und seine genossenschaftliche Haltung. Abdullah Öcalan spricht von ihm als seinem ‚verborgenen Geist‘. Ich empfinde es als großes Glück, jetzt hier zu sein. An dieser Akademie gewinnt man neue Perspektiven. Ich kann vielleicht nicht wie Haki Karer sein, aber ich konzentriere mich darauf, dem verborgenen Geist von Serok Apo näher zu kommen. Für mich war es früher immer ein Traum, mich der PKK anzuschließen. Schon in der Mittelstufe habe ich das Buch ‚Die Nacht der Vier‘ (Dörtlerin Gecesi) gelesen und war beeindruckt. Auch dass Haki Karer Türke war und sich für die türkisch-kurdische Geschwisterlichkeit diesem Kampf aus vollem Herzen gewidmet hat, hat tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich dachte, dass ich mich als Kurdin auf jeden Fall anschließen und seinen Kampf weiterführen muss. Eine Zeitlang war ich in der Jugendarbeit und dann kam der Moment, an dem es so weit war, mich anzuschließen. Der Geist des Widerstands, der hier an der Akademie herrscht, ist von Haki Karer erschaffen worden.“ Amara seufzte und nahm einen Schluck Tee.

Dann ergriff Amed das Wort: „Haki Karer und Kemal Pir waren Türken und der Vorsitzende sprach nur fünf Minuten mit ihnen. Beide stiegen sofort in den Kampf ein und widmeten ihr ganzes Leben dem Weg zur Wahrheit. Für mich war es ein Vorteil, dass meine Familie die PKK-Bewegung schon kannte, als ich noch ein Kind war. Ich bin mit den Geschichten der beiden aufgewachsen und wollte immer wie diese beiden türkischen Genossen sein. Mein Ziel ist es, ihr Erbe aufzugreifen und den Kampf auszuweiten. An dieser Akademie zu sein, gibt mir Kraft. Es gibt mir die Gelegenheit, mein Bewusstsein zu vergrößern und mich weiterzuentwickeln.“

Während wir uns beim Teetrinken unterhielten, war die Zeit schnell vergangen. Wir mussten aufbrechen und verabschiedeten uns von allen einzeln. Die Lebensfreude in den Augen der Guerillakämpferinnen und Guerillakämpfer, ihr zuversichtliches Lächeln, ging direkt ins Herz. In Gedanken noch bei unseren Gesprächen mit ihnen, setzten wir uns langsam auf dem Pfad in Bewegung. Unter einem grollenden Himmel ging unser Weg im Regen weiter. Alle, die wir getroffen hatten, hatten unterschiedliche Spuren bei uns hinterlassen. Wir wurden quatschnass, aber es war uns egal. Die heutige Etappe unserer Reise war vorbei …