Mit Bomben gegen Genozid-Überlebende
Nach dem türkischen Drohnenangriff in Şengal hat die Sicherheitsbehörde Asayîşa Êzdîxan die Zahl der Verletzten nach oben korrigiert. Demzufolge wurden am Montag bei dem Luftschlag im ezidischen Hauptsiedlungsgebiet im Nordwesten des Irak sechs Menschen verletzt – zuvor war über vier Personen berichtet worden.
Der Drohnenangriff hatte sich am Vormittag auf einer Landstraße unweit des Distriktzentrums von Şengal ereignet. Getroffen wurde ein Fahrzeug, in dem sich die Journalistin Medya Hasan Kemal und ihr Kollege Murat Mirza Ibrahim sowie der Fahrer Xelef Xidir befanden. Letzterer kam mit lebensgefährlichen Verletzungen in ein Krankenhaus in Mûsil (Mosul), sein Zustand soll weiter kritisch sein. Die beiden Presseleute wurden mit weniger schweren Verletzungen in eine örtliche Klinik gebracht.
Drei weitere Verletzte gab es, als der bombardierte Wagen infolge des Beschusses ein anderes Fahrzeug streifte. Hier war zunächst nur von einer Person die Rede. Nach Angaben der Sicherheitskräfte des Demokratischen Autonomierats Şengal (MXDŞ) handelt es sich um drei Mitglieder einer Familie, darunter ein siebenjähriges Kind. Nähere Angaben zu ihrem Zustand sind noch nicht bekannt.
Der MXDŞ und Asayîşa Êzdîxan verurteilten den Drohnenangriff auf das Schärfste. Beide Behörden warfen der türkischen Armee vor, mit ihrer Militärgewalt den von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) vor knapp zehn Jahren in Şengal verübten Völkermord fortzusetzen. Die Belegschaften ezidischer Medieneinrichtungen protestierten ebenfalls. In einer Presseerklärung beschuldigten sie die Türkei des „Staatsterrorismus“.
Medya Hasan Kemal, die für den ezidischen Fernsehsender Çira TV arbeitet, und Murat Mirza Ibrahim vom Radiokanal Çira FM hatten sich auf der Rückfahrt aus dem südlich des Şengal-Gebirges gelegenen Dorf Tel Qeseb befunden, als ihr Fahrzeug erfasst wurde. Die Ortschaft zählt zu jenen Orten in der Region, in denen der IS im August 2014 einen Genozid und Femizid verübt hatte. Die Journalist:innen waren dort hingefahren, um mit Überlebenden Interviews für eine Sendung anlässlich des bevorstehenden Jahrestages der IS-Massaker zu führen.
Murat Mirza Ibrahim ist ebenfalls Überlebender des Völkermords. Bis heute sucht der Radiojournalist einen seiner Brüder, der beim Überfall auf Şengal vom IS verschleppt wurde. Eine von den Terroristen entführte Schwester Ibrahims konnte nach jahrelanger Gefangenschaft bei der Dschihadistenmiliz befreit werden.
Drohnenterror gegen Genozid-Überlebende
Şengal (auch Sindschar oder Sinjar) ist das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der ezidischen Gemeinschaft. Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung kommt es dort seit 2017 vermehrt zu Luftschlägen durch türkische Kampfflugzeuge und Drohnen. Konkrete Ziele sind zumeist Einrichtungen der Autonomieverwaltung von Şengal, die Selbstverteidigungseinheiten YBŞ/YJŞ und Zivilpersonen. Bei den Opfern dieser Angriffe handelt es sich hauptsächlich um Überlebende des Völkermords von 2014.
Der letzte bekannte Drohnenangriff der Türkei in Şengal war Anfang April verübt worden. Damals wurde ebenfalls ein Fahrzeug attackiert, zwei Frauen wurden verletzt. Bei einem Angriff im März war Mecdel Feqîr, ein Kommandant der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ), ermordet. Die Killermaschine hatte nahe Til Êzêr einen Kontrollpunkt bombardiert, an dem Feqîr im Einsatz war. Er wurde 32 Jahre alt und hinterließ Frau und Sohn. Wenige Tage zuvor war in Şengal bereits der Zivilist Sadun Mirza Ali von einer türkischen Drohne getötet worden. Der Ezide war Vater von drei Kindern und arbeitete als Fahrer für das Gefallenenkomitee der Selbstverwaltung.
Der Deutsche Bundestag hat den IS-Genozid von 2014 als Völkermord an den Ezid:innen anerkannt. Die Bundesregierung steht jedoch bei den Massakern an der kurdischen Bevölkerung, egal in welchem Teil Kurdistans, grundsätzlich, stillschweigend und praktisch auf der Seite der Türkei. So wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Ezidinnen und Eziden aus Deutschland in den Irak abgeschoben, obwohl die Ampel die Rückführungen von ezidischen Geflüchteten im vergangenen Jahr noch als „unzumutbar“ bezeichnet hatte. In einigen Bundesländern ist die Abschiebung ezidischer Frauen und Kinder vorübergehend ausgesetzt worden.