„Wenn ich diese Solidarität sehe, dann erfüllt mich Hoffnung”

Am Trauerzelt für die ermordete Deniz Poyraz in Izmir steht das Leben nie still. Die Menschen sind voller Wut und warten darauf, dass der entzündete Funke einen Flächenbrand auslöst.

In einer Seitenstraße des Stadtteils Çimentepe in Izmir steht unter HDP-Fahnen das Trauerzelt für die ermordete HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz. Die 38-Jährige war am vergangenen Donnerstag von einem türkischen Faschisten ermordet worden. Viele Menschen aus ganz Kurdistan und der Türkei besuchen das Trauerzelt. In mehreren Städten und Provinzen wurden ebenfalls Trauerzelte aufgestellt. Der Onkel von Deniz Poyraz, Mahmut Poyraz, erklärt dazu: „Schaut, an diesen Zelten ist niemand aus der Familie präsent, sondern die HDP. Die HDP ist die Familie von Deniz. Die Ermordung von ihr ist ein Zündfunke für das kurdische Volk. Wenn derjenige, der den Befehl zu dem Mord gab, gewusst hätte, dass ihre Ermordung solch einen Aufschrei hervorrufen würde, hätte er es nicht gewagt, diesen Mord anzuordnen.“ Poyraz sagt, dass der Mord an einer unbewaffneten Frau einen weltweiten Aufschrei ausgelöst hat. Von überall auf der Welt rufen Menschen bei ihm an. Während wir sprechen, klingelt wieder das Telefon. Poyraz zeigt uns das klingelnde Telefon und sagt: „Deshalb bezeichne ich diesen Mord als Zündfunken.“

Still, aber wütend

Das Trauerzelt und die Straße davor sind nie leer. Die Tische füllen sich, die Tische leeren sich. Es scheint nicht wie ein Trauerzelt, sondern eher wie ein Ort der Versammlung. Niemand weint, niemand klagt. Alle sind voller Schmerz, aber still. Sie warten darauf, dass der Funke zum Feuer wird, still, aber wütend.

Die Besucher:innen umschließen Deniz' Mutter Fehime Poyraz. Sie befindet sich voller Würde und aufrecht in der Mitte des Geschehens. Wenn man die Straße herunterkommt, dann bemerkt man sie sofort unter einem Plakat für ihre Tochter. Sie bricht nicht zusammen, während wir reden. Sie hat viel zu erzählen. Seit Tagen spricht sie mit der Presse, aber sie ist noch nicht fertig.

Wir entfernen uns ein wenig aus der Menschenmenge, um mit Fehime Poyraz zu sprechen. Aber die Menge lässt sie nicht los. Ihr Telefon klingelt ständig und sie spricht mit allen voller Geduld. „Das macht mich stärker“, sagt sie und fügt an: „Ich werde nicht weinen. Ich habe sie in der Leichenhalle gesehen, aber ich habe nicht geweint. Natürlich habe ich das alles in mir vergraben, und eines Tages, wenn Kurdistan gegründet wird, werde ich diese Tränen vielleicht vergießen, aber nicht jetzt.“

Ihr Lächeln zeichnete sie aus“

„Wenn ich allein bin, dann kommt die Trauer, ich bin eine Mutter, aber wenn ich diese Solidarität sehe, dann erfüllt mich Hoffnung. Ich werde nicht weinen“, sagt die Mutter. Auf die Frage, was für ein Mensch Deniz gewesen ist, erzählt sie: „Sie hat viel gelacht. Als ich mit unserer Abgeordneten Serpil (Kemalbay) in die Leichenhalle ging, sagte sie: ‚Ach Deniz, du hast immer gelächelt und sogar jetzt lächelst du uns an.‘ Es ist, als hätte der Tod ihrem Lächeln eine besondere Schönheit gegeben. Sie hatten sie überall aufgeschnitten. Aber als ich meine Tochter sah, wie sie an diesem kalten Ort lag, kam sie mir dennoch besonders schön vor. Vielleicht lag es daran, dass ich sie das letzte Mal sehen sollte. Sogar der Tod passte zu meinem Mädchen. Sie hat ihr Leben ihrem Volk gewidmet und hart gearbeitet. Wir haben alle in der Partei gearbeitet. Der Kampf eines Menschen beginnt mit der Familie. Ihr Kampf begann bei uns.“

Sie wollte Kurdischlehrerin werden“

Der Vater von Deniz wurde verhaftet, als sie noch sehr jung war. Deniz ging damals jeden Tag bis 16 Uhr in die Grundschule, während die Mutter arbeitete, um die Familie zu versorgen. Sie musste dann immer auf ihre Brüder aufpassen. Für die Familie Poyraz sind die Arbeit in der Partei und der Kampf ums Überleben nicht einfach gewesen. Aber Deniz beendete dennoch die Schule. Und was war ihr Traum? Ihre Fotos mit der Geige in der Hand wurden von allen geteilt, mochte sie Musik? Mutter Fehime beginnt zu erklären: „Deniz liebte die Musik, sie tanzte gern und mochte Folklore, aber ihr Traum war es, Kurdischlehrerin zu werden. Sie wollte sogar nach Mêrdîn gehen, um zu unterrichten. Sie wollte ihrem Volk seine Sprache beibringen.“

Ich werde nicht aufhören, Frieden zu fordern“

Fehime Poyraz erinnert sich: „Meine Tochter war voller Leben, sie liebte alles, und sie kämpfte bis zu ihrem letzten Atemzug für das Leben.“ Laut Poyraz schoss der Mörder Onur Gencer Deniz zuerst in den Fuß, so dass sie nicht entkommen konnte: „Deniz kämpfte bis zum letzten Atemzug und versuchte zu überleben, aber vergeblich. Wir haben unsere Hand ausgestreckt und Frieden gewünscht, aber sie haben uns den Arm abgeschlagen. Ich werde trotzdem nicht aufhören, Frieden zu fordern. Natürlich wird es eine Zeit geben, in der ich meinen Schmerz in vollen Zügen leben werde, aber nicht jetzt. Jetzt muss ich härter für den Frieden und für meine Tochter kämpfen.“

Ein letzter Blick

Fehime Poyraz erzählt, sie habe ihre Tochter am letzten Tag nicht gesehen. Ihr Vater Abdüllilah Poyraz hatte Deniz gefragt, als sie morgens um neun Uhr das Haus verließ, ob er sie begleiten solle. Sie habe das wie immer abgelehnt und gesagt, sie gehe allein. Als sie zur Tür hinaus ging, hat sie ihren Vater angelächelt. Der Vater sagt, es sei gewesen, „als wenn in mir etwas zerreißen würde. Es passte mir nicht, dass sie allein ging, aber sie war schon zur Tür hinaus und weg.“

Es ist, als wäre sie gerade zur Tür hinaus“

Diejenigen, die von Deniz erzählen, sprechen nicht nur über eine Person, sondern auch über eine Frau, die sich ihrer Partei verschrieben hat. Ruhat Ulu, ein alter Freund der Familie, der auch für die HDP arbeitet, sagt: „Ich kenne die Familie seit 35 Jahren. Wir haben im Kreisverband und auf Provinzebene zusammengearbeitet. Deniz war ein liebevoller Mensch, und manchmal kann ich es immer noch nicht glauben. Ich habe das Gefühl, dass sie irgendwoher wieder auftaucht. Es ist, als käme sie wieder und würde jeden Einzelnen fragen, ob sie schon gegessen hätten oder ob sie nicht hungrig wären. Sie fragte immer alle einzeln, ob sie hungrig wären. Deswegen ist es einfach nur schwer zu glauben. Es ist also immer noch so, als käme sie gleich durch die Tür. Das letzte Mal, als ich sie sah, war sie im Gebäude der Provinzverbands von Izmir. Deniz war akribisch. Wir putzten die Räume gemeinsam und wenn jemand auf den gewischten Boden trat, sagte sie, ‚dann sind wir jetzt noch nicht fertig‘ und fing nochmal von Neuem an. Sie machte ihre Arbeit immer vollständig. Ich habe es gesagt, es fühlt sich an, als ob sie jeden Moment kommen würde. Ich konnte noch nicht an ihr Grab gehen, vielleicht später.“