Straßentheater in Şengal: Die Tragödie und der Verrat

Die Theatergruppe des Kultur- und Kunstzentrums Şengal hat eine Straßenperformance aufgeführt. Thema war das IS-Massaker an der ezidischen Bevölkerung vor sechs Jahren.

Am 3. August 2014 überfiel der „Islamische Staat“ (IS) das ezidische Siedlungsgebiet Şengal in Südkurdistan und richtete ein Massaker unter der Bevölkerung an. Aus Anlass des bevorstehenden Jahrestages hat die Theatergruppe des Kultur- und Kunstzentrums Şengal ein Straßentheater in Sinûnê aufgeführt. In dem dreißigminütigen Stück treten elf Schauspielerinnen und Schauspieler auf.

Für die Aufführung am Sonntagabend wurde der Verkehr unterbrochen. Die Menschen stiegen aus ihren Autos und kamen aus den Geschäften, um sich die Performance anzusehen. In dem Theaterstück geht es um die Ankunft des IS und den Rückzug der Peschmerga aus Şengal. Das Publikum verfolgte die Aufführung mit großem Interesse und abschließendem Applaus.

Nach der Aufführung erklärte die Schauspielerin Sofyan Hecî zu den Zielen der Theatergruppe, dass die Umstände des Genozids niemals in Vergessenheit geraten dürfen und die Menschen Maßnahmen ergreifen müssten, damit sich das Massaker nicht wiederholt: „Wir haben anlässlich des sechsten Jahrestages ein Stück aufgeführt. Die Leute haben uns herzlich empfangen. Wir danken ihnen. Wir dürfen diese Tragödie und den Verrat niemals vergessen."

Der ezidische Genozid von 2014

Schätzungen nach fielen etwa 10.000 Menschen dem ezidischen Genozid zum Opfer. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden vom IS entführt, mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und weitere Tausende werden bis heute vermisst. Das Massaker führte nicht nur zu einer humanitären Katastrophe, sondern hatte zum Ziel, die ezidische Religionsgemeinschaft auszulöschen. Als Mittel dazu richtete sich der Angriff systematisch gegen Frauen. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Feminizid dar.

Als der IS damals in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK ohne Vorwarnung zurück und überließen die dort lebenden Ezid*innen schutzlos dem IS. Für die ezidische Gemeinschaft begann die systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten. Wer fliehen konnte, zog sich in das Gebirge zurück. Dort schützten zunächst weniger als ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Eingang zum Gebirge und verhinderten das Eindringen der Dschihadisten.

Die PKK hatte bereits am 28. Juni 2014 nach einem Aufruf des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan ein zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Massaker nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer zogen auf den Şengal-Berg und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe die auf den Şengal-Berg geflohene Bevölkerung.

Die Guerillakämpfer hielten die westlich von Şengal verlaufende Straße von Sinûnê nach Dugirê und ließen keine Eroberung des Bergs durch den IS zu. Die ezidischen Jugendlichen zogen Kraft aus dem Guerillawiderstand und schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die neunköpfige Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen am 6. August zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den HPG zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Hunderttausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Ezid*innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mit der Zeit mehr als 200.000 Ezid*innen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden. Die YPG/YPJ und HPG kämpften aufopferungsvoll und immer wieder auch unter Verlusten, um diesen „humanitären Korridor“ aufrechtzuerhalten. 100 Kämpfer*innen fielen beim Schutz der Evakuierung der Bevölkerung. Insgesamt wurden beim Şengal-Massaker fast 300 Kämpfer*innen von YPG/YPJ und HPG durch den IS getötet.