Geschichtsbildung in schwierigen Zeiten

Das Bildungskomitee Witzenhausen hat sich in kleiner Runde zu einem selbstorganisierten Workshop getroffen. Die Gruppe beschäftigte sich mit den Methoden Abdullah Öcalans, wie der Jineolojî, und warf mit diesen einen Blick auf die Geschichte in Europa.

Das Bildungskomitee Witzenhausen hat sich am Wochenende in kleiner Runde zu einer selbstorganisierten Fortbildung in der Kleinstadt im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis getroffen. Schwerpunktmäßig beschäftigte sich die Gruppe mit den Methoden Abdullah Öcalans, wie der Jineolojî (kurd. „Wissenschaft der Frau”), und warf mit diesen einen Blick auf die Geschichte in Europa. „Unsere Geschichte zu verstehen ist für uns Grundlage, um eine gesellschaftliche Perspektive zu entwickeln. Gerade in Zeiten von Corona, in Zeiten des Abstandhaltens und der Isolation sind kollektive Zusammenkünfte und Bildungen existenziell”, erklärte eine Sprecherin des Komitees.

Der Corona-Lockdown hatte allerdings den Plänen des Bildungs-Komitees, eine große lokale Fortbildung abzuhalten, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Aktivistinnen und Aktivisten waren daher gezwungen, kreative Alternativen zu finden, um die Bildungsinhalte, die im Sommer im Rahmen eines längeren Workshops zu Widerstand und Geschichte gemeinsam erarbeitet worden waren, – Corona zum Trotz – „an die Freund*innen in Witzenhausen” weiterzutragen.

„Wir wollen Corona ernstnehmen und dennoch ist es für uns wichtig, weiterhin politisch zu arbeiten, zusammen zu kommen, sich zusammen zu bilden und Aktionen zu machen, denn Corona ist nicht das einzige, das auf der Welt passiert”, so das Komitee.

Bildung als kollektiver Moment der Hoffnung, des Verstehens und der Organisierung

An diesem Wochenende kam das Komitee mit der ersten kleinen Gruppe zusammen und hielt die ersten zwei Einheiten zu den Methoden und zum Geschichtsverständnis der kurdischen Bewegung ab. „Wir haben uns mit Jineoloji beschäftigt, ebenso wie mit der natürlichen Gesellschaft, den beiden Strömen der kapitalistischen und der demokratischen Zivilisation, haben über unsere Alltagserfahrungen gesprochen, über Persönlichkeiten, Momente und Phasen, die unsere Geschichte in Europa prägten. Wir haben Hoffnung gesammelt auf Veränderung und Ideen für die Demokratische Moderne, die wir zusammen aufbauen wollen.”

Durch die Diskussionen sei den Teilnehmenden klar geworden, welche wichtige Rolle die Geschichtsaufarbeitung bei der Entwicklung einer revolutionären Perspektive spielten. Denn nur wer die Geschichte analysiert, kann das Weltsystem verstehen und ihm kraftvollen Widerstand entgegensetzen, hieß es. „Der Widerstand, den es zu jeder Zeit und in jeder Region auf der Erde gegen die Zerstörung der Gesellschaft gab, ist uns Inspiration und Mahnung zugleich, die Fehler nicht zu wiederholen.”

Eine Welt jenseits von Staat und Macht ist möglich

Diese Bildungsseminare seien Ausdruck einer „zersplitterten Gesellschaft”, die ihre Wunden verheilen lasse, um die „apokalyptische Zerstörung der Welt” aufzuhalten. Da das System aber schon so tief in den individualisierten Knochen sitze, sei die Auseinandersetzung mit der Herangehensweise von Bewegungen außerhalb Europas existenziell. „Die PKK ist dafür eine der wichtigsten Quellen. Sie hält die Hoffnung auf Demokratie und Freiheit der Völker des Mittleren Ostens und der ganzen Welt am Leben. Sie zeigt jeden Tag aufs Neue, dass eine Welt jenseits von Staat und Macht möglich ist. Durch ihre Arbeit ist sie für alle Freiheitskämpfe der Welt Inspirationsquelle und zeigt mit ihren Methoden der Selbstkritik und Mentalitätsarbeit konkrete Wege der Veränderung auf”, resümiert das Witzenhausener Bildungskomitee.

Es lebe die PKK!

Die Bildungskomission Witzenhausen fordert deswegen Solidarität der deutschen Gesellschaft mit der PKK und Engagement gegen das PKK-Verbot. Mit Demokratie oder dem Schutz der Verfassung habe dieses Verbot nichts zu tun. Es diene alleine machtpolitischen Interessen, die man in der Bundesrepublik nicht durchgehen lassen dürfe.

Jineolojî: Wissenschaft der Frau 

Jineolojî ist aus der kurdischen Freiheitsbewegung entstanden und ist die Wissenschaft der Frauen. Das Wort Jineolojî ist aus zwei Wörtern zusammengesetzt: „jin“, was im Kurdischen für Frau steht, und „lojî“ vom griechischen „logos“ für Wissenschaft. Das kurdische Wort „jiyan“ für Leben steht auch mit drin. Es ist also die Wissenschaft von der Frau, für die Frau und für ein freies Leben. Sie ist die wissenschaftliche Basis der demokratischen Moderne.

Das Wort „Jin” hat in der kurdischen Sprache eine umfangreichere Bedeutung als es das deutsche Wort „Frau” wiedergibt. Hier ist die kurdische Bedeutung gemeint.

Das erste Mal schrieb Abdullah Öcalan 2008 in seiner Verteidigungsschrift „Soziologie der Freiheit“ von Jineolojî. Darin heißt es: „Solange das Wesen der Frau im Dunkeln bleibt, ist es nicht möglich, das Wesen der Gesellschaft aufzuklären. (...) Um die Geschichte der Kolonialisierung von Frauen zu lösen – einschließlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen, politischen und mentalen Kolonialisierung – wird die Aufklärung aller anderen Fragen in der Geschichte und allen Seiten der heutigen Gesellschaften nicht möglich sein.“

In den letzten zehn Jahren wurde die Jineolojî als radikale Wissenschaft der Frau, die die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft aus einem nicht patriarchalen Blickwinkel betrachtet, um so Lösungsvorschläge für eine befreite Gesellschaft zu finden, Stück für Stück entwickelt, vertieft und erweitert. Sie wurde zu einem Mittel, um die Geschichte der Frau zu schreiben, ihr eigenes Wissen wiederzuerlangen, um dadurch eine emanzipierte Kraft im Kampf um Freiheit zu sein und eine alternative Perspektive für die ganze Gesellschaft und Umwelt darzustellen. Die Jineolojî baut auf dem Konzept des demokratischen Konföderalismus auf, der derzeit in Rojava (Nord- und Ostsyrien) in die Praxis umgesetzt wird. Die Revolution in Rojava wird deswegen auch die Frauenrevolution genannt, weil sie eine wahre Alternative zu dem patriarchalen Herrschaftssystem darstellt. Und dies mit neuen Methoden, die nicht nach dem Konzept von Macht, Unterdrückung, Ausbeutung, Unterwerfung oder Eigentum funktionieren. Die Jineolojî beschränkt sich dabei nicht nur auf das Gebiet Rojava, sondern bildet die zur Zeit vielleicht bedeutendste wissenschaftliche Perspektive für gesellschaftlichen Wandel und den Kampf für Freiheit weltweit. Im Gegensatz zum Feminismus – den sie als Erbe und Teil von sich versteht – versucht die Jineolojî darüber hinaus zu wachsen und weiter gefächert gesellschaftliche Themen und soziale Kämpfe gegen Patriarchat, Staat, Herrschaft, Macht und Unterdrückung miteinander in Beziehung zu setzen, um aus der Geschichte zu lernen und sich aus einer Frauenperspektive neu zu organisieren, um die Gesellschaft und die Verhältnisse zu verändern.

Im Kampf um Befreiung ist eine gute Analyse der Geschichte und somit auch des Bruchs der Geschlechter von Bedeutung. Mit der Jineolojî soll dieses Wissen um die Frau von der Frau selbst wiedererlangt und so als Sozialwissenschaft der Gesellschaft zurückgegeben werden, damit ein sozialer Wandel möglich wird und eine alternative Gesellschaft auf den Werten der sozialen Freiheit aufgebaut werden kann. Ohne die Freiheit der Frau kann auch keine soziale Freiheit entstehen, sie ist sozusagen das Fundament für das Erreichen eines lebenswerten kollektiven Lebens.