Das gewebte Gedächtnis Kurdistans geht verloren

Die Tradition der Teppichwebkunst in Nordkurdistan droht verloren zu gehen. Aufgrund von Krieg und Assimilationspolitik verschwindet diese jahrtausendealte Kultur vor allem in Wan und Colemêrg.

Bedrohte Kultur

Wenn von kurdischen Kelims die Rede ist, geht es nie einfach um Teppiche, sondern eine Form der uralten Überlieferung einer von Frauen geprägten Geschichte. Jedes Motiv hat seine Vergangenheit und Frauen woben ihre Geschichte in die Teppiche ein. Das geschah vor allem im Winter. Im Sommer zogen die Frauen mit ihren Tierherden auf die Almen und lebten dort, oft unabhängig von Männern, die in den Dörfern und Städten blieben und anderer Arbeit nachgingen.

Eine ikonographische Methode der Wissensvermittlung

Die Frauen berichteten in der Bildsprache der Kelims von ihrem nomadischen Leben, ihrer Mythologie und ihren Traditionen und gaben sie über Generationen an ihre Töchter weiter. Als wichtiges Zentrum der Kelim-Herstellung im Norden Kurdistans gelten die Provinzen Wan (tr. Van) und Colemêrg (Hakkari), gelegen an der türkisch-iranischen Grenze und gegenüber Rojhilat, einem anderen Kernstück der kurdischen Teppichkultur. Beide Provinzen sind jedoch schwer vom Krieg und der ökonomischen Verwüstung durch den türkischen Kolonialfaschismus gezeichnet. Ein großer Teil der Bevölkerung ist geflohen, die Weidewirtschaft durch militärische Sperrgebiete zerstört. Während in der Vergangenheit fast in jedem Haus Kelims hergestellt wurden und Frauen ihre Realitäten und Motive in die Teppiche sponnen, existieren heute nur noch eine Handvoll Läden, die sie verkaufen. Dabei hat jeder Kelim seine Geschichte, die sich in den komplexen Mustern der Webfäden verbirgt. Sie sind Abbilder aus der natürlichen Umgebung, zum Beispiel Tiere oder Pflanzen, oder spiegeln Emotionen wie Freude und Leid sowie die Stammestradition der Menschen wider.


Kelims sind Dokumente der Flora und Fauna der kurdischen Berge

Nicht nur die Ornamente von Pflanzen befinden sich auf den Teppichen. Die Schurwolle, in der Regel von Schafen aus der eigenen Tierhaltung, wird mit natürlichen Farbstoffen gefärbt, deren Herstellung auf alten überlieferten Rezepten aus der endemischen Bergflora beruht. Auch das macht die Teppiche einmalig. Doch viele der Kelim-Motive sind heute nicht mehr bekannt, denn sie werden nicht mehr produziert und die orale kurdische Tradition, die hinter ihnen steht, droht zu verschwinden. Manchmal sind die Motive noch vorhanden, aber die Bedeutung ist vergessen.

Bedroht von ökonomischer Krise und Assimilationspolitik

Die Teppiche von Wan-Colemêrg verkörpern nicht nur die Kultur und Kunst des kurdischen Volkes, sondern auch seine Erinnerung und Geschichte. Die Assimilationspolitik des türkischen Staates und der AKP-Regierung, die Wirtschaftskrise, die Unterdrückung und der Krieg in der Region gehören zu den wichtigsten Gründen für das Verschwinden dieser Kultur. Mit der Teppichweberei verdienten frühen viele Menschen ihren Lebensunterhalt. Heute gibt es in Colemêrg weder Webereien noch Geschäfte, die Teppiche verkaufen. Im benachbarten Wan existieren zwar noch einige Werkstätten und Betriebe. Doch die verbliebenen Orte, an denen Teppiche hergestellt und verkauft werden, stehen aufgrund der Wirtschaftskrise kurz vor der Schließung.

„Weben rechnet sich nicht mehr“

Eine dieser Werkstätten gehört Kazım Bor. Er betreibt im Zentrum von Wan auch ein Geschäft für den Verkauf ‚seiner‘ Teppiche, die von Frauen in langwieriger Handarbeit hergestellt wurden und mit Wurzelfarben gefärbt sind. „Wir lassen sie selbst anfertigen. Wir haben Webstühle. Alles ist Handarbeit. Keiner von ihnen ist maschinell gefertigt. Viele Teppiche im Betrieb sind Jahrhunderte alt. Es gibt auch Teppiche, die aus einer Mischung von Baumwolle und Schafwolle bestehen. Der Kelim ist Ausdruck der Kultur des kurdischen Volkes. Er ist eine Tradition, die wir von unseren Vorfahren gelernt haben. Einige Häuser haben noch alte Webstühle, aber nur sehr wenige weben Teppiche. Das Weben von Teppichen ist ein sehr kostspieliges Geschäft geworden und aufgrund der wirtschaftlichen Situation vom Aussterben bedroht. Vor dem Erdbeben in Wan hatte ich 40 Webstühle. Jetzt gibt es nur noch einen Webstuhl. Es rechnet sich nicht mehr“, so Bor.

Von 300 Geschäften existieren noch drei

Die Muster der Kelims stehen in der Regel in der Tradition ihrer Herkunftsgebiete. Bekannte nomadische Teppiche, die ihren Namen von dem Ort ihrer Herstellung erhalten, sind laut Bor unter anderem Canbezar, Luleper, Gulsarya, Şehvanî, Gulgever, Gulsarya, Nehrek, Halit Begi, Sine, Keskener, Çilgul, Gulçîn, Gulhazar, Gulşîvan, Herkî, Hevçeker, Şamarî und Şimkubik. „Diese kurdischen Teppiche sind in der ganzen Welt bekannt. Wenn man uns unterstützen würde, könnte die Tradition wiederbelebt werden. Denn schaut man sich die Geschichte an, so handelt es sich bei unseren Kelims um eine uralte Tradition unserer Vorfahren. Früher gab es fast 300 Geschäfte in Wan, aber jetzt gibt es nur noch zwei oder drei Geschäfte, die Teppiche verkaufen. Das gewebte Gedächtnis Kurdistans geht verloren.“