Buchempfehlung: Die Stille vor dem Schuss

Azad Cudi hat ein Buch über seine Zeit bei den YPG geschrieben. Als Sniper nahm er in Rojava an der Befreiung Kobanês teil. Er kämpfte gegen Hunger, Übermüdung, wurde verwundet und sah Freunde sterben – bis der IS aus der Stadt vertrieben wurde.

Qamishli, Dezember 2013 bis Juni 2014: „Nachdem ich das Zielfernrohr auf diese Entfernung (1000 Meter, Anm. d. Verf.) eingestellt hatte, nahm ich meine Gegner ins Visier. Ich sah zwei IS-Kämpfer, einen dünnen und einen dicken. Sie mühten sich ab, ein schweres Duschka-MG auf einem Stativ gegen uns in Stellung zu bringen. Das konnte ich nicht zulassen. Der größere Kämpfer ging weg, offenbar, um etwas zu holen. Als er sich umdrehte und wieder in meine Richtung ging, dachte ich: Das ist meiner. Den Dürren verfehle ich vielleicht. Der Dicke ist mir sicher. Ich folgte ihm mit dem Zielfernrohr, das Fadenkreuz auf seiner Brust. Er hatte ein Gewehr. Dann beugte er sich zu der Duschka hinab und dirigierte ihren Lauf in unsere Richtung. Ich atmete aus. Eins...zwei...Ich hörte den Schuss nicht, und ich spürte kaum den Rückstoß...

Azad Cudi wurde 1983 in einer kurdischen Familie im Iran geboren. Als der Zwanzigjährige 2003 als Wehrpflichtiger in der iranischen Armee Jagd auf seine kurdischen Landsleute machen sollte, desertierte er und floh nach England. Er wurde britischer Staatsbürger, lebte ein bürgerliches Leben und kam als Exilant in Kontakt mit anderen Exilkurden.

„Da viele von uns in ihrer Heimat als Dissidenten galten, ging es natürlich häufig um Politik. Anfangs machten mich diese Exil-Oppositionellen skeptisch, ich fand, dass sie nur große Reden schwangen und wenig taten...“

Azad befasste sich mit den Büchern von Abdullah Öcalan, dem Gründer der PKK. Dieser wurde 1999 auf dem Weg nach Südafrika zu einer Einladung von Nelson Mandela in Kenia mit Unterstützung verschiedener Geheimdienste entführt und an die Türkei ausgeliefert. Seitdem befindet er sich auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft.

„...wie bei Mandela führte die Isolationshaft auch bei ihm zu einer gedanklichen Auseinandersetzung. Apos (kurd. Onkel, so wird Öcalan unter oppositionellen linken Kurden genannt) Sichtweise wurde milder, und er rückte vom Primat des bewaffneten Kampfes ab. Dasselbe galt für seine Forderung eines unabhängigen Kurdistan, an dessen Stelle er nunmehr bescheidener eine demokratische Konföderation ohne eigene Grenzen vorschlug…Apo vertrat jetzt die Ansicht, dass der Kapitalismus nicht unbedingt überwunden und repressive Besatzerregime gestürzt werden müssten...Sein neuer Vorschlag lautete, das System von innen heraus zu verändern.“

Azad beschreibt in seinem Buch kurz und sachlich die grundlegenden Gedanken Öcalans – ohne das für viele Westeuropäer abschreckende Revolutionsvokabular:

„Gemeinnutz anstelle von Eigeninteresse; Zusammenarbeit statt Wettbewerb; öffentliche Verantwortung statt persönlicher Belohnung; soziales Gut statt bloßen Konsums von Gütern und Dienstleistungen.“

Die Denkweise Öcalans, welche seit Ende der 90er Jahre ökologische Fragen und die Gleichberechtigung der Geschlechter, der Ethnien und Religionen integriert, begeisterte Azad ebenso wie viele andere Kurd*innen in der Heimat und im Exil. Westliche Medien und Politiker nehmen diese Veränderung nicht wahr und beziehen sich bis heute auf Analysen über die kurdische oppositionelle Bewegung aus den 80er und 90er Jahren. Es handelt sich um typisches ‚Framing‘: Man hat einen Rahmen, bzw. umgangssprachlich ein „Brett vor dem Kopf“. Das einmal ausgewählte ‚Frame‘ (Rahmen, Brett) wird im eigenen Denken und in der eigenen Argumentation immer weiter verwendet, obwohl sich die Fakten grundsätzlich geändert haben.

Azad erfuhr, dass die Kurden seit 2011 in Nordsyrien versuchten, die Idee des demokratischen Konföderalismus in die Tat umzusetzen, in einer Zeit, als Syrien im Bürgerkrieg versank, als sogen. Rebellen gegen das diktatorische Assad-Regime aufbegehrten. Was anfangs noch als ‚arabischer Frühling‘ wie in anderen Ländern des Nahen Ostens gefeiert wurde, entpuppte sich schnell als islamistischer Albtraum. Während des zunehmenden Chaos im ganzen Land und dem Erstarken des ‚Islamischen Staates‘ (IS) überließ die geschwächte syrische Armee den Norden Syriens der dort ansässigen, überwiegend kurdischen Bevölkerung. Sie hatte und hat bis heute allerdings kein echtes Interesse an den Belangen der dortigen Bevölkerung. Dies bedeutete, dass die Menschen dort islamistischen Kampfgruppen zunächst schutzlos ausgeliefert waren.

2013 entschied sich Azad, mittlerweile 30 Jahre alt, nach Nordsyrien zu gehen, um sich aktiv am Aufbau dieses basisdemokratischen Modells zu beteiligen. Anfangs arbeitete er in der Verwaltung eines Armenviertels in Qamishli, wo es an allem fehlte: an Wasser, Strom Schulen, Krankenhäusern. Er baute die Verwaltungskomitees mit auf, „an denen Kurden, Christen, Assyrer, Turkmenen, Tschetschenen und Armenier beteiligt waren.“ Er erlebte dort die Wiederbelebung der kurdischen Kultur mit ihren Liedern, Tänzen und der kurdischen Sprache. Erstmals gab es Sprachkurse, in denen die Bevölkerung ihre Sprache schreiben und lesen lernen konnten. Er erlebte die Begeisterung der Menschen, sich für ‚ihre‘ Gemeinschaft engagieren zu können. Dann kam der IS.

„Im Dezember 2013 schafften es die Dschihadisten eines Morgens, unbemerkt bis in die Außenbezirke von Qamishli vorzurücken und mit Mörsern in die Stadt zu schießen...Noch am Tag des Angriffs erklärten sich sieben Leute aus der Zivilverwaltung, darunter auch ich, bereit, in den Reihen der YPG, bzw. der YPJ zu kämpfen.“

Azad wurde nun wegen seiner Militärpraxis in der iranischen Armee zum Scharfschützen ausgebildet. 2014 war er bei der Rückeroberung von Kobane vom IS im Einsatz. Der Kampf um Kobane rüttelte die Welt wach. Erst jetzt, nachdem es auch etliche Anschläge im Westen gegeben hatte, schienen die westlichen Staaten die vom IS ausgehende Gefahr verstanden zu haben. Deswegen unterstützte die Anti-IS-Koalition mehrerer westlicher Staaten die Einheiten von YPG und YPJ mit koordinierten Luftangriffen. In dieser Zeit kämpften sich Azad und seine Kamerad*innen als Bodentruppe der Koalition von Haus zu Haus, Straßenzug um Straßenzug vor. Tausende verloren dabei ihr Leben.

Azad schildert in diesem Buch seine Zeit als Sniper in Kobane und Umgebung. Schonungslos lässt er die Leser am Überlebenskampf teilhaben , der von Hunger, Kälte, Dreck, Blut und zerfetzten Körpern der eigenen Leute und von der Zerstörung der Häuser, den Plünderungen und den bestialischen Hinrichtungen durch den IS geprägt war:

In einem Dorf ging Azad dem Gebrüll und Geheul eines Tieres nach. „Es führte mich zu einem leeren Schwimmbecken hinter einem großen Steinhaus. Darin stand ein ein wild um sich blickender, dicker und dreckiger Hund, der knurrte und mit den Zähnen fletschte. Neben ihm lagen Menschenknochen und zwei YPJ-Uniformen. Ich ließ einen Wassereimer in das Becken hinunter, um dem Tier etwas zu trinken zu geben. Nach einiger Suche fand ich ein Brett, das ich schräg in das Becken stellte, damit der Hund herausklettern konnte...und wir konnten die sterblichen Überreste unserer Kameradinnen einsammeln.“

Azad erlebte die Befreiung Kobanes mit. Von einem Minarett aus, beobachtete er den Abzug der Dschihadisten.

„Überall sah ich staubige, erschöpfte Gesichter, ...Menschen, die zugleich lachten und weinten...Es war eine Explosion der Freiheit...Mit unseren alten Gewehren und ein paar Hundert Männern und Frauen hatten wir die skrupelloseste, reichste und am besten ausgerüstete Miliz der Welt gestoppt. Jahrelang hatte der IS die gesamte Region terrorisiert, den Namen Gottes geschändet, er hatte gemordet, gefoltert, vergewaltigt und zerstört...Aber wir haben sie aufgehalten. Und dann Meter für Meter, Gebäude um Gebäude zurückgeschlagen…, die Welt konnte aufatmen. Es war ein Neuanfang für die Kurden und für die gesamte Menschheit. Aber welchen Preis hatten wir dafür bezahlt? Wir hatten Tausende verloren. Auch die Überlebenden waren von den Dschihadisten gezeichnet.“

Für die 8 verbliebenen von 17 Scharfschützen gab es jedoch keine Atempause. Azad musste weiter in den Krieg ziehen, um die umliegenden Dörfer vom IS zu befreien. Vier Monate später, im Mai 2015 wurde er von der Kommandeurin Tolin von der Front abgezogen und zurück nach Kobane geschickt. Er sollte dort das Büro für Auswärtige Angelegenheiten leiten und so den Weg zurück in ein ziviles Leben finden. Er blieb noch bis April 2016 in Kobane, verbrachte dann einige Monate im Nordirak und kehrte im Dezember 2016 nach Europa zurück.

Schwerst traumatisiert erreichte Azad 2017 wieder seinen Heimatort in England und versuchte mit diesem Buch seine innere Ruhe wieder zu finden. An diesem beschwerlichen Weg lässt er die Leser teilhaben.

Dieses Buch gibt einen Einblick in die intimsten Gedanken eines Menschen, der auf der Suche nach Freiheit ist und im Kampf dafür hunderte von Menschen getötet, aber damit tausenden das Leben gerettet hat. Es ist ein Buch jenseits von Revolutionsromantik, das die Brutalität des Krieges gnadenlos dokumentiert. Es ist ein Buch, das auch die Frage aufwirft, warum die westliche Welt die größte Ethnie der Welt ohne eigenen Staat ignoriert und deren Bedürfnis nach Anerkennung als Minderheit in der Türkei, dem Irak, dem Iran und in Syrien nicht unterstützt. Warum werden diejenigen, die sich für Anerkennung einsetzen, selbst in der westlichen Welt als Separatisten oder Terroristen kriminalisiert?

Aktuell schwebt über der Region erneut das Damoklesschwert eines Krieges, diesmal angezettelt vom türkischen Präsident Erdogan, der die Bevölkerung Rojavas von Afrin im Nordwesten bis nach Deir ez Zor im Nordosten vertreiben und durch geflüchtete sunnitisch-arabische Syrer ersetzen will.

Das Buch ist im März 2019 im Droehmer Verlag erschienen und kostet gebunden 19,99 Euro und als E-book 14,99 Euro.