Immense Zahl an Festnahmen
Der türkische Innenminister Ali Yerlikaya bestätigte heute, dass bei den Protesten, die nach der Verhaftung des Bürgermeisters der Istanbuler Stadtverwaltung, Ekrem Imamoğlu, begannen, bisher 1879 Personen festgenommen wurden.
Der massive Widerstand in der Türkei seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu geht in die zweite Woche. Seit dem 19. März, an dem der Instanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu aufgrund angeblicher Korruption und Terrorvorwürfe festgenommen worden war, gehen jeden Tag Zehntausende Menschen auf die Straße. Die Proteste sind die größten Demonstrationen in der Türkei seit den sogenannten Gezi-Protesten gegen Erdoğan im Jahr 2013.
Proteste trotz gewaltsamen Eingriffen der Polizei
Die Demonstrationen werden von Universitätsstudierenden und jungen Menschen angeführt, die hauptsächlich auf die Straße gehen, um ihre demokratischen Rechte einzufordern. In der vergangenen Woche wurden die Protestmärsche von der Polizei mit brutaler Gewalt beantwortet. Sie geht mit Tränengas gegen die Demonstrierenden vor und nahm bisher 1879 Menschen in Gewahrsam, die Demonstrationen reißen dennoch nicht ab.

Foto: Studierenden-Protest in Ankara
Proteste in der Türkei
Zentrum der Proteste ist Istanbul, aber auch in Dutzenden weiteren Städten der Türkei finden Demonstrationen statt. In Izmir und Antalya wurden am Mittwoch 20 der insgesamt 54 in Gewahrsam genommenen Personen ins Gefängnis verbracht. Der Anklagevorwurf lautet „Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz“. Auch in Rize, dem Geburtsort Recep Tayyip Erdoğans, und vor der Stadtverwaltung Ankaras versammeln sich immer wieder Hunderte Menschen.
Die Demonstrierenden fordern vor allem die Freilassung Imamoğlu, der als aussichtsreicher Herausforderer Erdoğans bei einer künftigen Präsidentschaftswahl gilt. Der Protest richtet sich aber auch immer deutlicher gegen die Regierung Erdoğans und ihre undemokratische Praxis, vom Volk gewählte Vertreter:innen durch Zwangsverwalter zu ersetzen.
Pressefreiheit in Gefahr
Auch für Medienschaffende wird die Berichterstattung über die Proteste immer gefährlicher. Am Sonntag waren in Istanbul und Izmir mindestens zehn Journalist:innen bei Polizeirazzien in Gewahrsam genommen worden (ANF berichtete). Unter ihnen befinden sich auch eine ANF-Korrespondentin und ein AFP-Fotograf. Die kurdischen Journalistenvereinigungen DFG und MKG verurteilten die Festnahmen der Medienschaffenden als „Schlag gegen die Pressefreiheit“ und forderten ihre umgehende Freilassung. Was den Journalist:innen konkret zum Vorwurf gemacht wird, ist noch unklar.
Aufruf für „Bündnis für Demokratie“
Hunderte von Schriftsteller:innen, Akademiker:innen, Politiker:innen und Ehrenamtlichen aus der Zivilgesellschaft haben am Mittwoch eine gemeinsame Erklärung zu den laufenden Ermittlungen gegen die Istanbuler Stadtverwaltung abgegeben, in der sie zur Einigkeit und zu einem „Bündnis für Demokratie“ aufrufen. Die von 337 Personen unterzeichnete Erklärung wurde in Folge der aktuellen Ermittlungen und der Verhaftung von Beamten der Stadtverwaltung veröffentlicht. Sie ruft zum Widerstand gegen diese Vorgänge auf.
„Wir müssen uns entschieden gegen die Maßnahmen der Regierung zur Wehr setzen, die die verfassungsmäßigen Rechte, die Freiheiten, die Demokratie und den Frieden aushöhlen. Die Justiz wird als Waffe einsetzt, um jede Opposition auszuschalten, die Öffentlichkeit einzuschüchtern und die Gesellschaft zum Schweigen zu bringen – unter Missachtung von Rechten, Gesetzen und Gerechtigkeit“, heißt es in der Erklärung.

Foto: Massenproteste in der Türkei
UN besorgt über rechtswidrige Praxen
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN) äußerte sich zu den Polizeieinsätzen und Festnahmen im Zusammenhang mit den Protesten. Liz Throssell, Sprecherin des Büros des Hochkommissars des UN-Menschenrechtsrates, sagte bezüglich der mehr als tausend Festnahmen in einer Erklärung: „Alle Personen, die wegen der legitimen Ausübung ihrer Rechte festgenommen wurden, müssen unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden.“
Dass der Staat die landesweiten Proteste in drei Städten mit Pauschalverboten von Versammlungen beantwortete, bezeichnete Throssell als rechtswidrigen Schritt. Sie forderte die staatlichen Institutionen der Türkei dazu auf, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit im Einklang mit dem Völkerrecht zu garantieren.
Hintergrund
92 Personen, darunter der Bürgermeister der Istanbuler Stadtverwaltung, Ekrem İmamoğlu, wurden am 19. März im Rahmen der Ermittlungen der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft wegen angeblicher Korruption und Verbindungen zu „terroristischen Organisationen“ in Gewahrsam genommen. Am 23. März ordnete ein Istanbuler Gericht İmamoğlus Inhaftierung an. Wenig später suspendierte ihn das Innenministerium von seinem Amt als Bürgermeister. Seit dem kommt es in vielen türkischen Städten zu Massenprotesten.