Yilmaz Kaba: Kein Opfer und kein Täter wird vergessen

Völkermorde wie 1915 an den Armeniern und 2014 in Şengal können und müssen verhindert werden, erklärt Yilmaz Pêşkevin Kaba von NAV-YEK, dem Zentralverband der ezidischen Vereine.

Der 24. April ist der Gedenktag an den Völkermord an den Armeniern, Assyrern, Aramäern, Pontos-Griechen und Êzîden. Wir teilen das Gedenken und die Trauer zum 103. Jahrestag des Völkermords, bei dem in den Jahren 1915 und 1916 mehr als 1,5 Millionen Menschen auf grausamste Weise massakriert und auf Todesmärschen in den Tod getrieben wurden. Auch das Eigentum - Grund und Boden, Häuser und Wohnungen sowie persönliche Habe aller Art - wurden gewaltsam und entschädigungslos von den Betroffenen enteignet. Hunderte armenische Schulen und Einrichtungen wurden geplündert, zerstört oder in Moscheen umgewandelt; viele weitere historische Monumente, Kunstwerke und Kulturgüter wurden vernichtet oder gingen für immer verloren. Von diesem Genozid waren auch mehrere hunderttausend Assyrer, Aramäer, Pontos-Griechen sowie Êzîden betroffen.

Es reichte aus Armenier, Assyrer, Aramäer, Pontos-Griechen oder Êzîde zu sein, um ermordet zu werden. Das Ziel war die Auslöschung ganzer Identitäten mit all ihren Kulturen und Sprachen.

Verbündete bei der Massenvernichtung

Die Führer der Jungtürken hatten Verbündete, die ihnen bei der Massenvernichtung halfen. Für dieses Massaker wurden spezielle Mordbanden zusammengestellt, die unter anderem auch aus Angehörigen kurdischer Stämme bestanden (sog. Hamidiye Truppen). Einige kurdische Stammesherren erhofften sich durch die Vertreibung und Vernichtung ihrer armenischen Nachbarn mehr Reichtum. Auch die Rolle des Deutschen Reiches beim armenischen Genozid war nicht zu unterschätzen. Das Osmanische und das Deutsche Reich waren in einer Kriegsallianz.

Wir bringen unser Mitgefühl mit den vom Genozid betroffenen Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck und sehen die Auseinandersetzung mit dem geschehenen Unrecht als notwendigen Schritt.

Der Genozid fand unter der Verantwortung der jungtürkischen, vom Komitee für Einheit und Fortschritt gebildeten Regierung des Osmanischen Reiches statt. Unterstützt wurde das jungtürkische Regime von seinem deutschen Waffenbruder. Zwangsarbeiter, rekrutiert aus den betroffenen Bevölkerungsgruppen, wurden mit der Bagdad-Bahn in die mesopotamische Wüste -- in den Tod -- deportiert. Deutsche Diplomaten breiteten einen Mantel des Schweigens über die vor ihren Augen begangenen Massaker, unter anderem auch an christlichen Bevölkerungsgruppen, um das strategische Kriegsbündnis mit dem osmanischen Reich nicht zu gefährden.

Auseinandersetzung mit Geschichte als Zeichen historischer Reife

Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches muss den Völkermord endlich als solchen anerkennen. Für einen demokratischen Staat ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte und die Anerkennung geschehenen Unrechts ein Zeichen historischer Reife.

Die Türkischen Republik wurde auf den Knochen und dem Blut der vertriebenen, beraubten und ermordeten Armenier und anderer christlicher Minderheiten sowie Kurden/Êzîden errichtet. Auch der Geist des Völkermordes blieb in der Türkischen Republik am Leben. Im Namen des Türkentums - sprich einer rein türkisch-muslimischen Identität - wurden und werden alle anderen Bevölkerungsgruppen verleugnet, zwangsassimiliert, vertrieben und ermordet. Es war und ist heute noch die Absicht der Türkei unter diesem Mantel eine Nation mit einer Religion unter einer Flagge zu errichten, wenn es sein muss, dann wie in der Vergangenheit schon, auch mit den Mitteln der Gewalt und des Zwanges. Auf die Verfolgung und Ermordung der Armenier, Aramäer und Assyrer folgten die Verfolgung und Ermordung der Kurden, vor allem der nicht-muslimischen Kurden wie u.a. erneut der Êzîden und Aleviten.

Homogenisierung im türkisch-muslimischen Nationalstaat

Das Ziel war und ist, damals wie heute, eine gesellschaftliche Homogenisierung. Die Umstände der Homogenisierungsmaßnahmen sind fast gleichwertig zu betrachten mit einer ethnischen Säuberung - ohne jeglichen Respekt die Vernichtung aller Sprachen, Kulturen und Identitäten. Damals im Sinne der Errichtung eines homogenen türkisch-muslimischen Nationalstaates durchgezogen, heute insbesondere durch die systematische Verleugnung des Genozids oder der Kriegsallianz der Türkei mit dem Islamischen Staat (IS). Die Herangehens- und Vorgehensweisen sind mehr als nur ähnlich.

Hunderttausende Kurden wurden in den 20er und 30er Jahren vertrieben und ermordet. Weitere 40.000 Kurden wurden in den letzten 30 Jahren getötet und Millionen vom Militär aus ihren Dörfern vertrieben. Auch das AKP-Regime setzt diese Politik der Verleugnung und Zwangsassimilation im Namen des Türkentums fort. Auf den physischen Genozid folgt der politische Genozid. Über 15.000 kurdische Politiker und zivilgesellschaftliche Aktivisten wurden in den letzten acht Jahren inhaftiert. Bauern werden aus der Luft bombardiert, Kinder in Gefängnissen gefoltert und vergewaltigt. Aleviten müssen zwangsweise den sunnitisch-islamischen Religionsunterricht besuchen. In alevitischen Dörfern werden Moscheen gebaut, während alevitische Cem-Häuser bis heute keinen offiziellen Status besitzen. Während der Prozess gegen die faschistischen Mörder von Sivas, die 33 alevitische Künstler und Intellektuelle verbrannten, eingestellt wurde, wurden und werden an mehreren Orten alevitische Häuser mit roter Farbe markiert - als Drohung und Vorbereitung neuer Massaker.

Eine Anerkennung des Völkermords und eine Entschuldigung dafür durch die türkische Regierung wären ein wichtiges und mutiges Zeichen historischer Verantwortung und ein Meilenstein auf dem Weg zur Demokratisierung. In einer neuen türkischen Verfassung müssen die Minderheitenrechte und kulturellen Rechte sämtlicher in der Türkei lebenden Bevölkerungs-, Glaubens- und Religionsgemeinschaften anerkannt werden.

Das türkische AKP-Regime weigert sich weiterhin, die Tatsache des Völkermordes einzugestehen. Wer von einem Genozid spricht, wird wegen „Verunglimpfung des Türkentums" verfolgt.

Das Verständnis der Verleugnung des Völkermords ist ebenso gefährlich wie der Völkermord selbst.

Dieses nationalistische Gedankengut hat sich auf subtile Weise größtenteils bis zur heutigen Zeit fest erhalten. Es verhindert jegliche Aufklärung oder Solidarität und kann nur umgestoßen werden, wenn die Geschichte aufgeholt und das Leid aller Völker der Region anerkannt wird. Menschen, die sich dennoch damit auseinandersetzen, werden verfolgt und sogar getötet - Hrant Dank, Tahir Elçi.

Das Modell einer demokratischen Nation

Es gab schon immer eine geografische Verbundenheit der Kurden und Armenier: Sei es das friedliche Zusammenleben in der Region in und um Kurdistan, weit weg von allen Vorurteilen, welche vor allem durch Religionen geschürt wurden, bis hin zur der traurigen Wahrheit des Elends, Leides und der Ausrottung: Heute ist Kurdistan, insbesondere Rojava und Şengal als Orte des Schreckens des Islamischen Staates, was damals die Region des Todesmarsches und der Deportation der Armenier nach Aleppo war.

Rakel Dink bezeichnete sich zum 100-jährigeN Jahrestag des Genozids als „Kind Cûdî´s“. Dies ist nochmals eine Bestätigung der regionalen Zusammengehörigkeit, die wir aufgreifen müssen, um die Geschwisterlichkeit zu fördern.

Die Freiheitsbewegung Kurdistans stand seit ihrer Gründung stets auf der Seite aller unterdrückten und verleugneten Bevölkerungs-, Glaubens- und Religionsgemeinschaften. Sie hat die Freiheit des kurdischen Volkes stets mit der Freiheit dieser Gemeinschaften verknüpft betrachtet. Wir betrachten die Perspektive der Demokratischen Nation als ein Modell, das zur Demokratisierung der Türkei, zur Lösung der kurdischen und armenischen Fragen und zum freien Leben der Bevölkerungs-, Glaubens- und Religionsgemeinschaften der Region führen kann. Die Demokratische Nation umfasst alle Bevölkerungsgruppen sowie Glaubens- und Religionsgemeinschaften und findet Ausdruck durch das freie und demokratische Leben in einem gemeinsamen Heimatland. Aus dieser Sicht bedeutet die Freiheit der Kurden zugleich auch die Freiheit der Armenier, der Suryoye, der Turkmenen und die Freiheit aller anderen Bevölkerungsgruppen sowie Glaubens- und Religionsgemeinschaften. Die Freiheit dieser Völker stellt zugleich die Freiheit der Kurden dar. Die Freiheitsbewegung Kurdistans hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich für die Anerkennung des Genozids an den Armeniern einzusetzen. Auch das Modell des demokratischen Konföderalismus, welches von Abdullah Öcalan erarbeitet wurde, vor allem für die Demokratisierung der Türkei und den Frieden in Kurdistan, stellt es einen Lösungsansatz dar - für die Kurden, aber auch insbesondere für die in der Region lebenden Armenier, Assyrer, Aramäer, etc..

Geteilte Freiheit ist nicht halbe Freiheit, sondern doppelte Freiheit. „Nur dann sind wir wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die uns umgeben, alle Bevölkerungs-, Glaubens- und Religionsgemeinschaften, ebenso frei sind wie wir. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung unserer Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung.“

Die Lösung der armenischen Frage/der Frage aller betroffenen Bevölkerungsgruppen sowie Glaubens- und Religionsgemeinschaften mit dieser Perspektive erscheint für uns deshalb als die demokratische und richtigste aller Lösungsmöglichkeiten.

Die Bevölkerungsgruppen konnten sich bis in unsere Gegenwart von dem Völkermord nicht erholen. Es ist absolut wichtig, dass sich diese noch besser organisieren. Aus den Erfahrungen unserer Freiheitsbewegung können und wollen wir unseren Freunden und Geschwistern diesbezüglich unterstützen. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass wir uns für eine Gesellschaft und Menschheit in Demokratie, Frieden, Freiheit und Menschlichkeit zusammenfinden, um dann dieses Vorhaben effektiv und nachhaltig leben und erleben zu können.

Deshalb ist die Forderung: Die Kultur der Verleugnung muss gestoppt werden. Kein Volk soll unter der Machtlogik von Staaten und dessen stumpfem Nationalismus leiden. Kein Mensch verdient den Tod auf Grund seiner ethnische Zugehörigkeit bzw. seines Glaubens. Verbrechen ist Verbrechen und Verbrechen zu relativieren ist wieder ein Verbrechen. Nur die Anerkennung der Schuld kann dem Nationalismus ein Ende bereiten. Nur so schaffen wir eine Voraussetzung für ein menschliches und basisdemokratisches Miteinander. Denn die Auseinandersetzung mit der blutigen Vergangenheit bedeutet gleichzeitig die nationalistische Identität, die sich gegen jegliche Minderheiten richtet, zu verwerfen.

Im Gedenken an die Opfer dieses Genozids und zum Zeichen der Geschwisterlichkeit aller Bevölkerungsgruppen sowie Glaubens- und Religionsgemeinschaften werden wir weiterhin alles Notwendige dafür tun, dass die Tatsache des Genozids anerkannt wird. Wir werden weiterhin alles daran setzen, dass alle Gräueltaten aufgedeckt werden.

Unsere Aufgabe soll es sein, den Genozid von 1915 nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Faschismus und Nationalismus findet in unserem Weltbild keinen Platz. In diesem Sinne: So wie kein Opfer jemals vergessen wird, werden auch die Täter nicht in Vergessenheit geraten.

*Yilmaz Pêşkevin Kaba ist Vorstandsmitglied von NAV-YEK - Zentralverband der Êzîdischen Vereine e.V.